Lesen Sie auf Geschichte-Lernen.net eine Überblicksdarstellung über die Herkunft und die Geschichte des Alkohols. Es wird die Antike angeschnitten, auf das Mittelalter eingegangen und die moderne Geschichte des Alkohols bis zur Weimarer Republik behandelt. Der Fokus liegt auf der Geschichte des Alkohol-Konsums im modernen Europa und dem enormen Anstieg des Alkoholkonsums der unteren Gesellschaftsschichten im 19. Jahrhundert, der unter dem Namen „Branntweinpest“ in die Geschichte einging. Im Beitrag wird untersucht, ob die dramatischen Darstellungen der Zeitgenossen, die mit dem Schlagwort „Elendsalkoholismus“ überschrieben wurden, so stehen gelassen werden können. Dabei kristallisiert sich heraus, dass der Alkoholkonsum in der Retrospektive und im historischen Vergleich weniger dramatisch erscheint als den Zeitgenossen damals.
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1. Alkohol seit der Antike
Ursprünglich wurde der Alkohol von den Menschen – wahrscheinlich schon mit der Sesshaftigkeit der Menschheit seit der Mittelsteinzeit 10.000 v. Chr. – eher zufällig entdeckt, als im Gärungsprozess überreifer (Feld-)Früchte Alkohol entstand. Seitdem wird Alkohol überall auf der Welt als Genussmittel konsumiert. In den ägyptischen Quellen des 3. Jahrtausends v. Chr. finden sich die ersten eindeutigen Belege, dass Wein gekeltert und Bier gebraut wurde. Keilschriftfunde aus Mesopotamien sind noch älter und beschreiben vermutlich ebenfalls den Prozess des Bierbrauens.
Alkoholische Getränke haben aber seit jeher auch kulturell-religiöse Bedeutung und werden schon im alten Testament erwähnt: Laut dem 1. Buch Mose, legte Noah als Erstes nach der Sintflut einen Weinberg an (9/20). In heidnischen Kulturen wurde Alkohol (unter anderem als Narkotikum und Stimulans) bei religiösen Zeremonien verwendet. Die unterschiedlichen Kulturen der Welt haben auch unterschiedliche Traditionen in der Herstellung alkoholischer Getränke entwickelt, die Zeugnis der jeweiligen geografisch-regionalen und kulturellen Gegebenheiten ablegen. So gewannen Nomaden Alkohol aus der Milch trächtiger Stuten. Die Römer kelterten Wein aus vergorenen Trauben ihres mediterranen Kernlandes und die Germanen stellten alkoholhaltigen Honigmet aus vergorenem Honig her, der in den ausladenden Wäldern Germaniens reichlich vorhanden war.
Schon seit prähistorischer Zeit nimmt der Alkohol einen zentralen Platz im gesellschaftlichen Leben des Abendlandes ein. So sind Zeugnisse von (übermäßigem) Alkoholkonsum bereits aus der Antike überliefert. Tacitus beschreibt in der Germania ausschweifende Gelage der alten germanischen Führungseliten. Auch andere römische Schriftsteller, wie Lucius Annaeus Seneca (4 v.Chr. ‑ 65 n.Chr.) dokumentierten archaische Trinkgelage und setzen sich mit dem Alkoholgenuss ihrer Landsleute (kritisch) auseinander. Für Seneca war Trunkenheit nichts anderes als „freiwilliger Wahnsinn“. Er charakterisiert den betrunkenen Zustand als „Krankheit“, die auftritt, wenn die ‘übergroße Kraft des Weines’ von ‘der Seele Besitz ergriffen’ habe. (Seneca 1984: IV,208,214) Von übermäßigem Alkoholkonsum berichteten Römische Schriftsteller auch bei den „Barbaren“, wie beispielsweise den Kelten oder den Thrakern.
1.1 Geschichte des Alkohols im Mittelalter
Im Mittelalter war übermäßiges Alkoholtrinken vor allem im Adel und wohlhabendem Klerus verbreitet. Gelegenheiten für ausschweifenden Alkoholkonsum boten vor allem große, repräsentative Festmähler. Dabei galt ein Fest gemeinhin als gelungen, wenn alle geladenen Gäste am Ende berauscht waren. Für die ländlichen Unterschichten aber, die im Mittelalter den überwiegenden Anteil der Bevölkerung ausmachten, reichte das Budget für Nahrungs- und Genussmittel nicht für größere Mengen Alkohol im Alltag. Angehörige der unteren gesellschaftlichen Schichten nutzten Alkohol zwar schon im Mittelalter als Nahrungs-Ergänzung. Alkoholexzesse aber blieben auf (kirchliche) Fest- und Feiertage beschränkt. Zudem besaßen die konsumierten Getränke nur einen relativ geringen Alkoholgehalt.
1.2 Geschichte des Alkohols in der Frühen Neuzeit
Auch in der frühen Neuzeit blieb (exzessives) Trinken vor allem ein Privileg des Adels, bei dem es im gesellschaftlichen Umgang weitgehend zum guten Ton gehörte, Alkohol zu trinken. Die Chroniken und Memoiren des 16. und 17. Jahrhunderts liefern vielfältige Schilderungen ausschweifender adliger Trinkgelage. Schon damals ähneln die Klagen über Trunkenheit und Völlerei im Adel den dramatischen Klagen über den Alkoholmissbrauch der unteren Schichten im 19. Jahrhundert. Die Frage, ob es in dieser Epoche schon zu einem spürbaren Anstieg des Alkoholkonsums in absoluten Zahlen gekommen ist, bleibt in Ermangelung statistischer Daten offen und wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Fest steht, dass Rausch-Trinken nicht ausschließlich Merkmal adligen Lebens war: Auch an den Universitäten der frühen Neuzeit wurde viel und exzessiv getrunken. Offizierskorps und verschiedene kirchliche Institutionen und Pfarreien bildeten ebenfalls einen „Hort der Trunkenheit“. Die ländlichen und städtischen Unterschichten der frühen Neuzeit aber bleiben weiterhin von regelmäßigem, exzessivem Alkoholkonsum ausgeschlossen. Zur täglichen „Nahrungsaufnahme“ der Unterschichten – sozusagen als „Nahrungsergänzung“ – gehörte der Alkohol aber inzwischen, wenn auch in geringen Mengen.
Fasst man den Alkoholkonsum der Unterschichten in der Vormoderne zusammen, so lässt sich sagen, dass für Bauern und die städtischen Unterschichten nur der sporadische Alkohol-Exzess möglich war. An den normalen Tagen des Jahres blieb das Hauptgetränk der Unterschichten (wohl nicht immer keimfreies) Wasser. An weltlichen und geistlichen Feiertagen war der Alkohol jedoch fester Bestandteil der Kultur und das in nicht unerheblichen Mengen
2.Das Aufkommen des Branntweins ab dem 15. Jahrhundert
Wie im letzten Abschnitt geschildert, war es vermutlich schon bis zum 16. Jahrhundert zu einem Anstieg des Alkoholkonsums gekommen. Es wurde dabei vor allem Traubenwein, Honigwein (Met), Obstwein (Most) und Bier getrunken. Der Branntwein, der die Frühphase der Moderne dominieren sollte, hatte noch keine breite Verwendung gefunden. Die Branntweinherstellung war durch die Alchemisten-Küchen des 11. Jahrhunderts entwickelt worden, die die Destillation von reinem Alkohol aus Wein erfanden. Im Laufe der Geschichte hatten die meisten Kulturen Alkohol auch für medizinische Zwecke eingesetzt.
Vor allem der Branntwein diente im 13. und 14. Jahrhundert noch überwiegend als Arzneimittel. Er wurde in Klöstern hergestellt, zu hohen Preisen in (Kloster-)Apotheken verkauft und galt als magisches Mittel bei der Krankenheilung
2.1 Der Branntwein wird zum Genussmittel
Erst im 15. Jahrhundert entdeckte man das Potenzial des Branntweins als Genussmittel. Als Schnaps getrunken setzte man ihn nun zur schnellen, gezielten Berauschung und Entspannung ein. Die „Befreiung“ des Branntweins von seiner rein medizinischen Funktion stellt einen echten Meilenstein in der Geschichte des Alkohols dar. Von nun an entstanden gewerblich-kommerzielle Brennereien, die Branntwein aus Getreide herstellten. Das faktische Verkaufsmonopol der Klosterapotheken fiel weg und auch rein kommerzielle Verkäufer vertrieben nun hochprozentigen Alkohol. Zunächst blieb der Gebrauch als Genussmittel aber nahezu ausschließlich auf die höheren städtischen Schichten beschränkt.
Die Beschränkung des Branntweingenuss auf die Oberschicht begann sich ab dem 17. Jahrhundert abzubauen: Der Konsum von destilliertem Alkohol wurde, ausgehend vom Beispiel des Adels über die wohlhabenden Bürger der Städte und weiter über die ländlichen Oberschichten langsam in das Trinkverhalten der städtischen – später auch der ländlichen Unterschichten – integriert. Auch das Beispiel von branntweintrinkenden Soldaten der Kabinettkriege, diente als Katalysator für die erste größere Verbreitung des Schnaps im deutschen Reich. In den niederen Schichten kam der Branntweinkonsum zuerst bei den städtischen Handwerkern an. Bald entdeckten aber auch Seeleute, Soldaten und generell Menschen, die im Freien arbeiteten, den Branntwein zur „Stärkung“ und als „Schutz“ gegen die Kälte. Allerdings blieb in dieser ersten Phase der Ausbreitung von Branntwein der Energiebedarf des Schnapsbrennems hoch. Der Ertrag war relativ niedrig und auch stark von schwankenden Kornernten abhängig. Der Branntwein konnte so noch nicht in großen Mengen erzeugt werden und die Produktion blieb weitestgehend auf den städtischen Raum beschränkt.
2.2 Die Eroberung Europas durch den Branntwein
Den Grundstein für die Eroberung des Deutschlands durch den Branntwein legten die Napoleonischen Kriege: Einerseits machten die Soldaten Napoléons durch ihre Beispiel den Schnaps weiter populärer, indem sie große Mengen Branntwein – sowohl als Motivation, als auch als Nahrungsersatz – tranken. Noch wichtiger aber war 1806 die Niederlage Preußens gegen Napoléon im dritten Koalitionskrieg. Der endgültige Niedergang des überholten, absolutistischen Staats- und Wirtschaftsgefüges machte den Weg frei für die liberalkapitalistisch-bürgerliche Gesellschaft.
Auch in der folgenden Phase politischer Restauration nach dem Wiener Kongress setzen Europas Herrscher die Neugestaltung des Wirtschaftssystems fort. Das kapitalistische System entstand und der Branntwein deutlich billiger. Mehrere Faktoren waren dafür verantwortlich. Infolge der Durchsetzung der Gewerbefreiheit (in Preußen ab 18010/11) wurde die – in den Städten konzentrierte – Brenngerechtigkeit (Erlaubnis zur Herstellung von Branntwein) und Schankkonzessionierung (Lizenz zum Ausschank) mitsamt der lokalen Verkaufsmonopolisierung aufgehoben. Die Konkurrenz auf dem neu entstandenen „Schnapsmarkt“ ließ die Preise fallen.
2.3 Die Kartoffel und neue technische Verfahren revolutionieren die Herstellung von Alkohol
Einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zum billigen Branntwein markiert die Einführung der Kartoffel in Europa. Diese wurde im 18 Jahrhundert als „Wunderwaffe“ gegen die Hungersnöte in der Zeit der napoleonischen Kriege eingeführt. Um 1647 pflanzten deutsche Bauern die Kartoffel erstmals in Deutschland zur Nahrungserzeugung an. Schnell entwickelte sie sich als Nahrungsmittel und als Ausgangsstoff für industrielle Anwendungen. Kartoffeln erbrachten einen zehnmal höheren Hektarertrag an Nährstoffen, bei einem gleichzeitig wesentlich geringeren Anspruch an die Bodenqualität – im Vergleich zum traditionell angebauten Getreide. Aufgrund des großen Erfolgs des ertragreichen Kartoffelanbaus erließ Friedrich II. (der Große) 1745 ein Gesetz, dass Bauern auf zehn Prozent ihrer Ackerflächen Kartoffeln anzubauen hatten.
Die erste Kartoffelbrennerei in Deutschland wurde wohl um 1750 in Rheinhessen in Betrieb genommen. Den Durchbruch als Grundlage für die Schnapsbrennerei erlebte die Kartoffel durch verschiedene Fortschritte in der Destillations- und Brenntechnik, wie die Erfindung eines dampfbetriebenen Destillationsgerätes durch Johann Pistorius (1777–1858). Mit dem sogenannten „Pistoriusschen Brennapparat“ war es möglich, 60- bis 80-prozentigen Alkohol aus Kartoffelmaische herzustellen.
Die Kombination der fortschrittlichen Brenntechnik des 19. Jahrhunderts mit der neuen Konkurrenz auf dem Spirituosenmarkt sorgte dafür, dass die Preise für den Kartoffelschnaps ganz erheblich sanken; in manchen Gebieten des Deutschen Reichs sogar um die Hälfte. Die neuartige Schnapsherstellung brachte aber nicht nur preisliche Vorteile mit sich, sondern führte auch zu gesundheitlichen Nachteilen. So wies der Kartoffelschnaps generell einen hohen Anteil an giftigen Fuselölen auf. Hinzu kam, dass er oft in verunreinigten Kesseln gebrannt wurde und so hochgiftige Kupfer-, Zink-, und Bleioxide enthielt. Durch die günstigen Preise auf dem „neuen Spritmarkt“ konnten sich auch die ärmsten Angehörigen des Lumpen- und landlosen Proletariats den qualitativ minderwertigen und mit Wasser gestreckten Billig-Kartoffelschnaps leisten. Das hatte in der Folgezeit solch dramatischen Auswirkungen, dass die Zeitgenossen eine so genannte „Branntweinpest“ kamen sahen.
3. Die Branntweinpest im 19. Jahrhundert
Da seit dem 19. Jahrhundert erstmals gesicherte statistische Daten vorliegen, lässt sich der seit Beginn des 19. Jahrhunderts folgende Sprung des Alkoholverbrauchs gut aus den Daten ersehen. So lag in Preußen der Branntwein-Pro-Kopf-Verbrauch pro Jahr – gemessen in reinem Alkohol – um 1800 noch bei 2 – 3 Litern. Diese Zahl verdoppelte sich nun innerhalb von 2 Jahrzehnten. So stieg in den 1830er und 1840er Jahren der Verbrauch auf über acht Liter pro Kopf und Jahr. Einzelne Provinzen verzeichneten zeitweise noch höhere Werte. Beispielsweise stieg der Konsum in Brandenburg auf ganze 13 Liter. Auch die Zahl der Wirtshäuser stieg im Verhältnis zur Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So gab es in den alten Provinzen Preußens 1852: 2,5 Wirtshäuser; 1869: 3,7; Wirtshäuser und 1872: 4,8 Wirtshäuser.
Der Schwerpunkt der Branntweinpest lag in Nord- und Nordost- und Nordwestdeutschland. In Süddeutschland behielten, trotz eines Anstiegs des Schnapskonsums, die traditionellen Alkoholika Bier und Wein den Platz als Spitzenreiter des konsumierten Alkohols bei. Das bedeutete allerdings nicht, dass hier wenig Alkohol getrunken wurde. Anfang der 1840er Jahre übertraf der bayerische Bierkonsum mit mehr als 140 Litern die preußischen Werte um das Fünffache. Ein sehr hoher Bierverbrauch sorgte dafür, dass die bayerischen Alkoholkonsumquoten, gemessen in Form von Reinalkohol, nicht wesentlich niedriger lagen, als in Preußen.
Alkohol-Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung in deutschen Staaten 1840–42; Historischer Vergleich hier
Branntwein (l Weingeist) | Bier(l) | Wein (l) | Gesamt (l Weingeist) | |
Preußen | 7,9 | 24 | 2 | 8,8 |
Hannover | 7,5 | 17 | – | 8,1 |
Sachsen | 4,9 | 64 | – | 7,1 |
Thüringischer Zollverein | 3,8 | 64 | – | 6 |
Kurfürstentum Hessen | 6,6 | 24 | – | 7,4 |
Großherzogtum Hessen | 4,1 | 20 | 18 | 6,6 |
Württemberg | 1 | 82 | 30 | 6,9 |
Bayern | 3 | 123 | 11 | 8,4 |
3.1 Industrialisierung und steigender Alkoholkonsum zur Gründerzeit.
Zu einer weiteren Steigerung des Alkoholverbrauchs in Deutschland führte der industrielle Aufschwung während der Gründerzeit zwischen 1850 und 1870. In dieser Größenordnung war es in der Geschichte von Alkohol noch nie zu solch einem rasanten Anstieg des Alkoholkonsums gekommen. Und es würde danach auch nicht mehr dazu kommen. Der Pro-Kopf Konsums von Alkohol war um 1900 auf knapp 12 Liter gestiegen und erreichte damit einen Höhepunkt, der vor Ende des 2. Weltkriegs nicht wieder überschritten werden sollte. Zu Beginn des Deutschen Kaiserreichs während der Gründerkrise ging der Alkoholverbrauch zwar kurzzeitig zurück. Er erholte sich aber nach 1878 zusammen mit der Gesundung der deutschen Volkswirtschaft. Auch Bismarcks Reichsbranntweinsteuerreform von 1887 senkte den Gesamtverbrauch alkoholhaltiger Getränke nicht, obwohl diese den Preis der Spirituose verdoppelt und zu einem dramatischen Absinken des Konsums von Branntwein um etwa 40 Prozent geführt hatte. Dabei machte sich der Rückgang besonders deutlich in den Hochburgen der Kartoffelschnapsproduktion, den östlichen Provinzen Preußens bemerkbar. Hier hatte sich bis 1887 der Branntweinverbrauch auf einem der Vormärzzeit vergleichbarem, teilweise noch höherem Niveau von 10-12 Litern (reiner Alkohol) gehalten. Nun aber hatten sich die Unterschiede im Verbrauch der verschiedenen Alkoholsorten zwischen dem Nordosten und dem Südwesten Deutschlands spürbar abzuschleifen begonnen.
Wenn der Rückgang des Branntweinkonsums nach 1887 nicht zu einem Rückgang der Gesamt-Alkoholkonsum Quoten führte, lag dies daran, dass die Verdoppelung des Bierverbrauchs zwischen 1860 und 1900 den Rückgang des Branntweinkonsums überkompensiert hatte. Erst die Jahrhundertwende markierte in Sachen Alkoholkonsum eine Trendwende, trotz des weiteren Anstiegs der Reallöhne, nahm die gesamte Menge an verbrauchtem Alkohol ab. Steuererhöhungen (1906: Bier; 1909: Bier und Branntwein) erklären diesen Trend teilweise, die Gründe liegen neben den finanziellen Ursachen vor allem in der verstärkten Aktivität der Anti-Alkoholbewegung.
3.2 Der Pauperismus und das Aufkommen der Alkohol-Frage
Obwohl der Alkoholkonsum im späten 19. Jahrhundert insgesamt noch höher gelegen hatte, überliefern die Quellen Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts die dramatischsten Klagen über den Alkoholismus. Der neue Wirtschaftsliberalismus mitsamt ungebremstem Manchester-Kapitalismus brachte ein weiteres Phänomen des frühen 19. Jahrhunderts mit sich: den sogenannten „Pauperismus“. Im Deutschen Reich verstärkte eine lang anhaltende Agrardepression und ein verstärktes Überangebot an Arbeitssuchenden die Massenverarmung breiter Volksschichten. Es entstand ein landloses Proletariat unterhalb des bäuerlichen Standes. Durch das allgemeine Bevölkerungswachstum wuchs dieser „Bodensatz“ der Gesellschaft stark an. Die klassische Armenfürsorge der Gemeinden war der neuen Elendswelle im Pauperismus nicht mehr gewachsen. Als schließlich um 1830 der Pauperismus mit einem hohem Konsumniveau von Branntwein zusammenfielen, stach den Zeitgenossen die Auswirkungen des neuen und nun regelmäßigen Alkoholkonsums besonders drastisch ins Auge.
Das hing damit zusammen, dass Unterschichten in der Vormoderne noch von regelmäßigem Alkoholgenuss ausgeschlossen gewesen waren. Bürgerliche Intellektuelle sprachen von einer neuen Volksseuche, der sie den Namen „Branntweinpest“ gaben. Der Begriff geht wahrscheinlich auf den Schweizer Dichter Zschoke zurück. Verbreitung fand er vor allem durch einen Artikel von Christian Wilhelm Hufeland. Der berühmte bürgerlichen Arzt und Sozialreformer hatte schon Ende des 18. Jahrhunderts vor den Gefahren des steigenden Branntweinkonsums gewarnt. Über die Auswirkungen des übermäßigen Branntweinkonsums des Proletariats finden sich in der zeitgenössischen, bürgerlichen Alkoholliteratur des 19. Jahrhunderts dramatische Erzählungen vom Alkoholkonsum des Proletariats. Man sprach fortan vom „Elendsalkoholismus“ des Proletariats. Bürgerliche Sozialreformer stellten die sogenannte „Alkohol-Frage“. Mit diesem Schlagwort war die selbst gestellte Aufgaben gemeint, dem übermäßigen Alkoholkonsum der unteren Schichten und den Alkohol-Auswirkungen beizukommen.
„Die wahre Ursache der Verarmung liegt offenbar in der für diesen Stand zu horriblen Verschwendung in diesem Genussmittel. Wir können durch vorliegende Listen nachweisen, dass mehr denn drei Viertel jener total Armen und Dürftigen durch Branntweintrinken und Trunkfälligkeit in ihre hülflose Lage gesunken sind.“
Aus einer norddeutschen Zeitung, 1834.
4. Arbeiter und Alkohol: Der Elendsalkoholismus – Ein Mythos?
Die Diagnose und „Behandlung“ des Elendsalkoholismus im 19. Jahrhundert prägte einen großen Teil der Diskussion von bürgerlichen Sozialreformern. Die bürgerliche Literatur orientierte sich vor allem an einer Schrift von Friedrich Engels aus dem Jahre 1845. Sie trug den Titel „Die Lage der arbeitenden Klassen in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen„. Engels zeigte darin auf, welche Rolle der Alkohols – seiner Meinung nach – zur Zeit des ungebremsten Manchester Kapitalismus für die Arbeiterschaft spielte. Für ihn war die Sachlage eindeutig.
4.1 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klassen in England
In seiner Schrift, 1845 im Mutterland und in der Hochphase der englischen Industrialisierung verfasst, zeichnete Engels ein dramatisches Bild des im Alkohol verelenden Arbeiters. Er diagnostizierte einen direkten Zusammenhang zwischen der Industrialisierung und dem Missbrauch von Alkohol durch die Arbeiterschaft. Nach Engels trieben verschiedene Aspekte der unmenschlichen, proletarischen Lebensbedingungen, die Arbeiterschaft quasi automatisch in die Alkoholabhängigkeit. Denn mit der Hilfe „geistiger Getränke“ (frühmoderne Bezeichnung für Alkoholika) wolle sich der Arbeiter Linderung seiner schlechten körperlichen Verfassung durch schlechte Luft und schlechte Nahrung verschaffen. Zudem belasteten den Arbeiter auch unsichere Arbeits- und Lohnverhältnisse, da er nicht wusste, ob er morgen noch in Lohn und Brot stehen würde.
Auch das übermäßige Trinken selbst schwächte die Gesundheit der Arbeiter – laut Engels – weiter. Zudem sei der Branntwein die einzige „Freudenquelle“ nach der Arbeit und „der Trunk“ die einzige Möglichkeit für das Proletariat in feuchten, engen, kalten und schmutzigen Wohnungen, „die Aussicht auf den nächsten sauren Tag erträglich“ zu machen. Auch sei das Wirtshaus der einzige Ort gewesen, wo die Arbeiter ihre Freunde treffen können. Weitere Faktoren, die den Arbeiter in die Alkoholsucht trieben, stellten für Engels das Beispiel der anderen, trinkenden Arbeiter dar und die „vernachlässigte Erziehung“ durch die – in vielen Fällen alkoholkranken – Eltern, die auch ihren Kindern Branntwein zu trinken gaben. „Bis zur Unerträglichkeit gesteigert“ wurde so die „angespannte, unbehagliche und hypochondrische Stimmung“ des Arbeiters. Unter diesen Bedingungen war für Engels die „physische und moralische Notwendigkeit vorhanden, dass eine große Anzahl der Arbeiter dem Trunk verfallen muß“.
Die Trunksucht des Arbeiters war also kein Laster, sondern die unvermeidbare Folge des Kapitalismus, für den der Arbeiter nichts konnte und dem er schutzlos ausgeliefert war.
4.2 Elendsalkoholismus: Was sagt die moderne Geschichtswissenschaft?
Die Rolle der Arbeiterschaft im „Elendsalkoholismus“ des 19. Jahrhunderts und das Ausmaß des proletarischen Alkoholkonsums blieb lange durch die moderne geschichtliche Forschung nicht umfassend untersucht. Dafür orientierte sich die Wissenschaft maßgeblich an der bürgerlichen Alkoholliteratur des 19. Jahrhunderts. Beschreibende bürgerliche Quellen des Elendsalkoholismus wiederum nahmen vor allem bei Friedrich Engels Bezug. So blieb das dramatische Bild Engels bis in die geschichtliche Forschung im Nachkriegsdeutschland wirkungsmächtig. Es lautete: „Der Arbeiter benutzt den Alkohol als Fluchthelfer aus und Seelentröster gegen seine unmenschlichen Lebensbedingungen während der Früh- und Hochindustrialisierung und verelendet schließlich im Alkohol“ .
Ein differenzierteres Bild des Arbeiter-Alkoholkonsums während des Elendsalkoholismus entwickelte erst 1980 der englischen Historiker James S. Roberts. Im Artikel, „Der Alkoholismus deutscher Arbeiter im 19. Jahrhundert“ in der historischen Fachzeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ untersuchte Roberts erstmals wissenschaftlich den Alkoholkonsum der Arbeiterschaft im vorletzten Jahrhundert. Roberts Thesen wurden später zwar auch kritisiert, wobei sich andere Historiker vor allem gegen seine These aussprachen, dass der Arbeiter-Alkoholkonsum im 19. Jahrhundert schichtenspezifisch höher lag. Dass der Alkoholkonsum der Arbeiter wirklich höher lag, bleibt weiter umstritten, da gesicherte statistische Daten für den proletarischen Alkoholkonsum bis zur Weimarer Republik fehlen. Die meisten Experten tendieren inzwischen zur Annahme, dass sich die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert als die trinkfreudigste Gesellschaftsschicht erwies.
Fest steht auf alle Fälle, dass Roberts die wissenschaftlich-differenzierte Erforschung des Alkoholkonsums der Arbeiterschaft einleitete, abseits von Engels Elendsalkohol-Thesen. Dabei wurde ein Konzept Roberts in der geschichtswissenschaftlichen Alkohol-Forschung Standard, wenn es fortan um den Arbeiter Alkoholkonsum des 19.Jahrhunderts ging. Das Konzept teilt den Alkoholkonsum in die Teilbereiche „instrumentelles Trinken“, „soziales Trinken“ und „narkotisches Trinken“. Roberts differenzierte damit das Trinkverhalten der Arbeitsschaft und entdramatisierte auch Engels Elends-Thesen – zumindest ein Stück weit.
4.3 Das Konzept James S. Roberts zur Differenzierung des Arbeiter-Alkoholkonsums
Die moderne Geschichtswissenschaft entwickelte ein Konzept, den Arbeiter-Alkoholkonsum im 19. Jahrhundert in einem differenzieren Schema darzustellen. Abseits der Elendsalkohol-Thesen von Engels geht es auf den Forscher James S. Roberts zurück. Seine Einteilung in „narkotisches“, „instrumentelles“ und „soziales“ Trinkverhalten kommt dabei einem Paradigmenwechsel in der Erforschung von Alkohol- und Arbeitergeschichte gleich. Letztendlich verabschiedete man sich weitgehend von der undifferenzierten und politisch motivierten Sichtweise Engels.
4.3.1 : „Narkotisches Trinken“
In die Kategorie „narkotisches Trinken“ fällt für James S. Roberts das Trinkverhalten, das von Engels für nahezu allgemeingültig erklärt hatte. Arbeiter setzten narkotisches Trinken zur gezielten Betäubung ein: Es stellt den gezielten Konsum von Alkohol bis zum Rausch dar, um von der Wirklichkeit (vorübergehend) erlöst zu werden. Roberts bestreitet im Gegensatz zu Engels, dass solche Fluchtversuche die Gewohnheit des Proletariats gewesen sind. Belegen möchte er dieses Argument damit, dass Trinker mit auffälligen Konsumgewohnheiten, die bereits Frau und Familie wegen ihrer Alkoholprobleme vernachlässigten, schon im 19. Jahrhundert in der Arbeiter-Gemeinschaft sozial ausgegrenzt wurden. Auch wenn Roberts nicht bestreitet, dass narkotisches Trinken vorkam. So unbefriedigend Wohn-, Arbeits-, Lebens- und Lohnverhältnisse gewesen seien mögen, nach Roberts suchten nur wenige Arbeiter Zuflucht im Alkohol, zumindest langfristig
4.3.2 „Instrumentelles Trinken“
Nach Roberts spielte der Alkohol eine weitaus wichtigere physiologische Rolle im Alltagsleben der Arbeiterschaft. So ist für Roberts das „instrumentelle Trinken“ von großer Bedeutung. Hier trinkt der Arbeiter um seinen (echten) Durst zu stillen und seinen Hunger durch die Zuführung der im Alkohol enthaltenen Kalorien zu befriedigen. Das instrumentelle Trinken war der Versuch der ärmeren Schichten, körperliche Bedürfnisse zu befriedigen, die sie zur Zeit des Pauperismus sonst nicht befriedigt bekamen. So war der Branntwein fester Bestandteil der Ernährungsgewohnheiten der Unterschichten und als „Bereicherung“ ihrer oft eintönigen und kalorienarmen Ernährung äußerst beliebt.
Weitere Erklärungen für das instrumentelle Trinken identifizierte Roberts im Mangel von qualitativ hochwertigen Alternativ-Getränken und im Glauben an die heilende und stärkende Wirkung des Alkohols, der sich hartnäckig hielt. Zudem fand das instrumentelle Trinken durch das sogenannte „Trucksystem“, Verbreitung. Dabei wurde vom Arbeitgeber Alkohol als Verpflegung ausgegeben, damit die Arbeiter die harten Arbeitsbedingungen ertragen konnten, die von überlangen Arbeitszeiten, hohen oder niedrigen Temperaturen am Arbeitsplatz und schwerer körperlicher Arbeit gekennzeichnet waren. Das instrumentelle Trinken – eng mit der Armut im Pauperismus verknüpft – endete auch weitestgehend mit dem Abklingen der Armut seit den späten 1880er Jahren, das mit einer spürbaren Verbesserung der Ernährungssituation des Proletariats einher ging. Auch trieben viele Arbeitgeber, angeregt von der deutschen Anti-Alkoholbewegung, die Veränderung der proletarischen Trinkgewohnheiten voran. Durch Verdrängung des Alkohols sollte die Arbeitsdisziplin gestrafft werden und die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie angehoben werden. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das „instrumentelle Trinken“ schließlich aufgehört, für das proletarische Trinkverhalten bezeichnend zu sein.
4.3.3 „Soziales Trinken“
Vor allem seit der Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871 – 1918) wurde das instrumentelle Trinken dann von einer Hauptform des proletarischen Trinkverhaltens abgelöst, die Roberts als „soziales Trinken“ bezeichnet. Sie findet in Gesellschaft statt und ihr liegen psychosoziale Motive zugrunde wie z. B. die Erleichterung der Kontaktaufnahme und die Förderung der Solidarität. Im noch vorwiegend ländlich geprägten Deutschland am Anfang des 19. Jahrhunderts war das soziale Trinken auf eine Anzahl kirchlicher und familiärer Feiertage beschränkt geblieben. Vor der industriellen Produktion von Branntwein und Bier hinderten ein hoher Preis und der Mangel an Bargeld, die bäuerliche Schicht und die ländliche Unterschicht oftmals daran übermäßig Alkohol zu trinken. Nur an Tagen von besonderer sozialer oder kultureller Bedeutung, wie z. B. zur Erntedank, auf Hochzeiten, aber auch an kirchlichen Feiertagen saß man regelmäßig bei geselligen Trinkgelagen zusammen.
Als aber die Industrialisierung mit der kapitalistischen Geldwirtschaft die ländlichen Gegenden durchdrang, kam auch der billige Branntwein. Da sich die Industrie-Arbeiterschaft vor allem aus den ländlichen Unterschichten rekrutierte, brachten diese ihre Gewohnheiten, sich an Festtagen regelmäßig gemeinsam zu betrinken, in die Städte mit. Hier wurden sie nun in ihren Trinkgewohnheiten bestärkt, weil nun vermehrt Bargeld zur Verfügung stand. Es ermöglichte es den Arbeitern, sich den (nun billigeren) Alkohol viel öfter erlauben zu können. Nur folgte der Rhythmus, sich in Gesellschaft zu betrinken, nicht mehr dem Rhythmus der Feiertage, sondern dem der Lohnauszahlung. Weil zudem andere Freizeitmöglichkeiten am Beginn des Industriezeitalters fehlten, nahm das Wirtshaus eine immer wichtigere Rolle im Leben der Arbeiter ein und erfüllte wichtige Funktionen in den Arbeitervierteln: So bot das Wirtshaus Zuflucht vor Regen und Kälte und fertige Speisen konnten in der Gaststätte konsumiert werden. Das Wirtshaus diente auch als Arbeitsvermittlungsstätte, vor allem aber als Treffpunkt für private Diskussionen und Vereinsabende. Die steigende Bedeutung des Wirtshaus illustriert die steigende Zahl der Wirtshäuser im Verhältnis zur Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: In den alten Provinzen Preußens beispielsweise gab es 1852: 2,5 Kneipen je 100 Einwohner, 1869 schon 3,7 Kneipen pro 100 Einwohner und 1872 schließlich 4,8 Kneipen je 100 Einwohner.
Am Vorabend des 1. Weltkriegs aber war das Alkohol-Trinken für die Mehrheit der Arbeiterschaft nicht mehr die einzige Freizeitbeschäftigung. Andere Möglichkeiten die Freizeit zu gestalten, bildeten beispielsweise die entstandenen Arbeiterbildungs- und Kulturvereine. Der Alkoholkonsum war so zunehmend rückläufig. Ein Trend, der sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter fortsetzen sollte. Gänzlich auf Alkohol und die damit verbundene Geselligkeit wollten nur die wenigsten Proletarier verzichten.
5. Alkohol-Geschichte der Weimarer Republik
Der Erste Weltkrieg leitete in der Geschichte des Alkohols im 19. und 20. Jahrhunderts eine Sonderphase ein, die in der Weimarer Republik vor allem durch eine außerordentlich niedrige Verbrauchshöhe der Alkoholika gekennzeichnet war
5.1 Zwangsbewirtschaftung und niedrige Verbrauchshöhen
So beginnt die Geschichte der Weimarer Republik mit einer fortgesetzten Zwangsregulierung der Wirtschaft in den ersten beiden Nachkriegsjahren. Die im Ersten Weltkrieg eingeführte Kontingentierung von Lebensmitteln blieb bestehen. Darunter fiel auch die Beschränkung der Herstellung von Alkoholika. Damit blieb der Alkoholkonsum im Vergleich mit anderen Jahren innerhalb der Geschichte des Alkohols sehr niedrig und überstieg das Kriegsniveau nicht wesentlich. In Folge der Inflationskonjunktur der Jahre 1921–22 verzeichneten die Statistiken zwar wieder ein leichtes Anwachsen des Alkoholkonsums, was allerdings nur temporären Trend darstellte. Bereits im nächsten Jahr beendete die Hyperinflation diese Tendenz bereits wieder.
Erst in der Phase der sog. „relativen Stabilität“ von ca. 1924 an stieg der Alkoholverbrauch bis 1929 mit ca. 5,5 Liter Rein-Alkohol pro Person und Jahr auf den höchsten Stand der Zwischenkriegszeit. Aber auch damit konnten die Konsumwerte nicht im Entferntesten an den Stand um 1900 heranreichen. Schon die Phase der Weltwirtschaftskrise 1929–1933 stoppte den kurzen Anstieg und lies den Alkoholkonsum auf lediglich 60 Prozent des Vorkrisenniveaus schrumpfen. Der Alkoholverbrauch Pro-Kopf fiel während der „großen Depression“ auf nur drei Liter reinen Alkohol pro Kopf und Jahr
5.2 Wirtschaftliche und andere Gründe für den niedrigen Alkoholkonsum der Weimarer Republik
Es wäre aber verfehlt, allein in der schlechten wirtschaftlichen Gesamtlage Gründe für diese Entwicklungen zu suchen: Diese Entwicklung muss auch als Antwort der Konsumenten auf den starken Preisanstieg alkoholischer Getränke interpretiert werden. Infolge mehrfacher Steueranhebungen waren diese in der Weimarer Republik so teuer wie nie zuvor. So belegte der Weimarer Staat das Biertrinken nach der Währungsstabilisierung mit einer doppelt so hohen Steuer, wie vor dem Krieg.
Bis 1930 verdoppelte sich diese Steuerquote noch einmal. Hinzu kam noch die Besteuerung von Bier durch die Gemeinden, die zwischen 1930 und 1932 noch einmal drastisch erhöht wurde. Die Gemeinden belegten den Bierkonsum im Durchschnitt mit einem fünfmal höheren Steuer als 1923. Im direkten Vergleich zur Jahrhundertwende stieg die Biersteuer bis 1933 auf das Zwanzigfache.
Die ebenfalls sehr hohe Steuer auf Branntwein verhinderte, dass Konsumenten mit Schnaps ihren Wunsch nach billigem Alkohol verwirklichen konnten. Auch der Alkoholkonsum der Arbeiterklasse folgten in der Weimarer Republik dem allgemeinen Reichstrend und lag im historischen Vergleich besonders niedrig. Folgt man einer Erhebung des statistischen Reichsamts von 1932, lag der schichtenspezifische Alkoholkonsum sogar unter dem Durchschnitt von Angestellten und Beamtenfamilien. Der niedrige Alkoholverbrauch der Zwischenkriegszeit war ein Phänomen, das in der gesamten westlichen Welt vorzufinden und ebenso in den USA, Westeuropa und Skandinavien zu beobachten war.
5.3 Die kulturellen Hintergründe der Trockenheit
Die Gründe für die Ausnahmesituation in der modernen Alkoholgeschichte zur Zeit der Weimarer Republik sind vielfältig: Wichtige Faktoren dafür stellten unter anderem der enorm gesunkene Lebensstandard und die zeitweise sehr hohe Arbeitslosigkeit dar, welche mit einer allgemein unsicheren wirtschaftlichen Situation einherging. Auch der den kräftigen Steuererhöhungen geschuldete Preisanstieg des Alkohols stellt einen Grund für diese Entwicklung dar. Allerdings wäre es verfehlt, allein damit das ungewöhnliche Phänomen hinreichend begründen zu wollen. Hohe Bedeutung muss auch der wachsenden Konkurrenz durch große Aufkommen neuer Freizeitangebote zugemessen werden, wobei sowohl Kino, Radio, wie auch die vielfältigen neu entstandenen Freizeitorganisationen eine Rolle spielten.
Ein wichtiger Erklärungsansatz für dieses Phänomen liegt auch in einem spürbaren Einstellungswandel, der in der zweiten Hälfte des Kaiserreichs zwischen 1890 und 1914 seinen Ursprung hatte. Die Altersgruppen der zwischen 20 und 40 Jährigen, bei denen früher meist die größte Affinität zum Alkohol bestanden hatte, wurden als junge Erwachsene im Kaiserreich mit dem Alkohol vertraut gemacht. Natürlich gab es auch Alkoholmissbrauch in Weimar. Grundsätzlich war die Zeit aber durch eine breite öffentliche Auseinandersetzung über die Risiken des Alkoholkonsums gekennzeichnet. Die Argumente gegen Alkohol der Gesellschaft waren nun vielfältig und die Förderung der Gesundheit, des wirtschaftlichen und militärischen Potentials Deutschlands waren Ziele der intensiven Agitation der Anti-Alkoholbewegung gegen den Alkoholmissbrauch. Abstinenz oder ausgeprägte Mäßigkeit beim Alkoholkonsum waren im Selbstverständnis vieler Jugendlicher – insbesondere derer, die der Jugendbewegung anhingen – nun nicht mehr Ausdruck von Schwäche, sondern eher Merkmal vernünftigen, zeitgemäßen Verhaltens.
Auch wenn die Anti-Alkoholbewegung sicherlich nicht alle Angehörige der Weimarer Gesellschaft erreichte. Trotzdem stieß die Bewegung bei einer nicht unbedeutenden Anzahl von Menschen in der Weimarer Republik auf Resonanz. Zeitweise gab es in zahlreichen jugendbewegten Gruppierungen starken Abstinenzeinfluss
5.4 Genuss(feindschaft) und Alkohol
Einen weiteren, spezifisch deutschen Grund für den niedrigen Konsum alkoholischer Getränke in der Zwischenkriegszeit hat die neuere Forschung zur politischen Konsumgeschichte herausgearbeitet: So lag der Konsum-Rückgang auch an einem, vor allem in der Zeit der großen wirtschaftlichen Krisen, besonders genussfeindlichem Klima. In diesem bildete sich nach dem 1. Weltkrieg eine Art „pädagogische Front“, die die Rückkehr zu alten Gewohnheiten der Vorkriegszeit verhindern wollte. Darunter verstand man auch das übermäßige Trinken und anderen Formen „entbehrlichen Konsums“. Die Front der „Genussfeinde“ in der Weimarer Republik bestand bei Weitem nicht nur aus Vertretern der Anti-Alkoholbewegung.
Angriffe gegen den Alkohol fanden in der Zwischenkriegszeit verstärkt in der Politik Gehör. Jede Form des sinnlichen Genusses, unter anderem der Konsum von Genussmitteln wie Tabak und Alkohol, sofort unter den Verdacht der Verschwendung geriet. Aus moralisch-sittlichen Gründen sollte dieser Verschwendung zum Wohle der harten Arbeit und des Wiederaufbaus abgeschworen werden. So wurde, auch und vor allem in Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum, quer durch die Parteilandschaft verschwenderischen Konsum-Angewohnheiten der Kampf angesagt.
So gab im August 1922 der wirtschaftspolitische Ausschuss des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats, wo Unternehmer und Vertreter der liberalen Parteien dominierten, die Forderung aus, dass Schnaps und Champagner nicht mehr öffentlich ausgeschenkt werden dürfen. Damit sollte verhindert werden, dass im Ausland ein Bild des „dekadenten Deutschen in Krisenzeiten“ entstünde. Auch die hohe Zahl an Likörstuben, Bars etc. sollte eingedämmt werden. Sogar die bayerische Landesregierung empfahl der Reichsregierung die Einschränkung der Produktion von Alkoholika. Die Reichsregierung erließ im September 1922 eine Lebensmittelverordnung, die einige dieser Forderungen auch erfüllte. Man verbot die Verwendung von inländischem Zucker und Obst für die Branntwein- und Sektherstellung und Süßigkeiten. Zugleich erließ man ein Verbot der Starkbierherstellung und Einschränkungen für die Herstellung von Vollbier.
6. Geschichte des Alkohols – Zusammenfassung
Alkoholkonsum war seit jeher fest in der Kultur des Abendlandes verankert, auch das übermäßige Rauschtrinken. Allerdings beschränkten wirtschaftliche Faktoren übermäßigen Alkoholkonsum der unteren Gesellschaftsschichten vor der Industrialisierung auf Fest- und Feiertage.
Erst die Industrialisierung und mit ihr die neu entstandenen, wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – verbunden mit dem technischen Fortschritt dieser Zeit – ermöglichten der Unterschicht, in Gestalt des neu entstandenen Proletariats, regelmäßigen und übermäßigen Branntweinkonsum. Der nun sehr billig gewordene Branntwein wurde jetzt auch außerhalb der Feiertage getrunken. Ein sehr hoher Konsum von Branntwein der Unterschichten kennzeichnete den Begriff „Branntweinpest“. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Phänomene der „Branntweinpest“ und des Pauperismus zusammenfielen, diagnostizierte die bürgerliche Alkoholliteratur des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an Friedrich Engels der Arbeiterschaft, im pathologischen Zustand des „Elendsalkoholismus“ gefangen zu sein. Hohe Alkoholkonsumwerte der Gesamtbevölkerung reichten bis in die Zeit des Kaiserreichs. Erst die Jahrhundertwende markierte mit sinkenden Alkoholkonsumquoten eine Trendwende.
Die Frage, ob der Alkoholkonsum der Arbeiter wirklich höher lag, als der anderer Gesellschaftsgruppen ist in Ermangelung schichtenspezifischer statistischer Daten während des „Elendsalkoholismus“ offengeblieben. Festgehalten werden konnte zumindest ein -gesamtgesellschaftlich gesehen – hoher Alkoholkonsum und der Umstand, dass die These Engels angezweifelt werden muss, die besagt, dass sich ein beträchtlicher Teil des Proletariats aus der Not seiner gesellschaftlichen Abseitsstellung mit Hilfe des Alkohols in eine Narkose versetzte. Erkenntnisse der neueren Forschung haben dem gegenüber ergeben, dass instrumentelles und vor allem soziales Trinken in der Arbeiterschaft wesentlich weiter verbreitet waren.
Die Zwischenkriegszeit ist als Ausnahmeperiode von einem historisch niedrigen Alkoholkonsum aller Gesellschaftsschichten geprägt. Mehrere Faktoren waren dafür verantwortlich: Einerseits eine dauerhafte, wirtschaftliche Krise und sehr hohe Preise für alkoholhaltige Getränke, andererseits auch die gute Resonanz der Anti-Alkoholbewegung und eine weitreichende Genussfeindschaft in der Politik.
Anhang: Überblick Alkoholverbrauchswerte
Artikel erstmals erschienen am 6. August 2014.
Google und Geschichte – Robin Brunold studierte neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und politische Wissenschaften und absolvierte seinen Magisterabschluss im Januar 2013 an der LMU München. Davor hat er die Waldorfschule Ismaning besucht und mit dem externen Abitur abgeschlossen. Heute arbeitet er selbstständig im Bereich Suchmaschinenmarketing und als Freier Historiker.
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