Daniel Ellsberg und die Pentagon Papers: Der Urvater der Whistleblower

Only a free and unrestrained press can effectively expose deception in government. And paramount among the responsibilities of a free press is the duty to prevent any part of the government from deceiving the people and sending them off to distant lands to die of foreign fevers and foreign shot and shel.

Justice Black, US-Bundesrichter 1971

Dieser Beitrag befasst sich mit einem Menschen, der im Jahr 2016 den Dresdner Friedenspreis für seine Rolle als „Urvater der Whistleblower“ erhalten hat: Daniel Ellsberg. Der heute (Stand: April 2021) 90-Jährige hat im Jahre 1971 Lügen der amerikanischen Regierung hinsichtlich des Vietnamkriegs enthüllt, indem er geheime Kriegsdokumente der Presse zukommen ließ.

Wir beschäftigen uns mit Ellsbergs Enthüllungen und den damit verbundenen Konsequenzen für Amerika, die Pressefreiheit und ihn selbst. So stellen wir unseren Lesern einen Whistleblower vor, der in den USA Geschichte geschrieben hat, aber hierzulande nicht besonders bekannt ist. Warum musste er, anders als die Menschen hinter den WikiLeaks-Enthüllungen oder Edward Snowden, weder ins Exil, noch ins Gefängnis, und was macht Daniel Ellsberg heute?

(Foto: Daniel Ellsberg, 2020 von Christopher Michel.)

Exkurs zum Anfang: Die bekannten Whistleblower der Gegenwart

Um Daniel Ellsbergs Tat und deren Auswirkungen sowie sein ganzes Leben und Handeln danach besser verstehen und in einen aktuellen Kontext stellen zu können, erachte ich es als vorteilhaft, die bekanntesten Whistleblowing-Fälle im Zusammenhang mit den USA der Gegenwart zu kennen, weshalb sie im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen.

Der US-amerikanische Soldat Bradley Manning, der heute nach einer Geschlechtsumwandlung Chelsea Manning heißt, ließ im Jahr 2010 der Online-Enthüllungsplattform WikiLeaks hunderttausende Dokumente zukommen, die schwere amerikanische Kriegsverbrechen im Afghanistankrieg (2004 – 2010) und im Irakkrieg (2004 – 2009) bezeugten. Sie legten Tausende zuvor unbekannte, zivile Todesopfer offen. Für ihre Enthüllungen wurde Chelsea Manning zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, verbrachte mehrere Jahre in Haft und wurde schließlich Anfang 2017 von Barack Obama kurz vor dessen Amtsabtritt begnadigt.

Der Gründer von WikiLeaks, Julian Assange, der selbst keine Enthüllungen unternommen, sondern nur die Plattform dafür geboten hat, befindet sich aktuell (Stand: April 2021) seit zwei Jahren in britischer Haft. Ein Auslieferungsgesuch der USA ist vom Gericht zwar abgelehnt worden, doch die USA hat Berufung eingelegt. Bei einer Auslieferung droht dem Australier ein Gerichtsverfahren mit einer Höchststrafe von 175 Jahren Gefängnis.

Der damalige Mitarbeiter mehrerer amerikanischer Geheimdienste, Edward Snowden, hat im Jahr 2013 enthüllt, dass die Nationale Sicherheitsbehörde Amerikas, die NSA, weite Teile der Weltbevölkerung auf illegale Weise ausspioniert. Er löste damit die globale Überwachungs- und Spionageaffäre aus. Edward Snowden erhielt Asyl in Russland und lebt seitdem in der Nähe von Moskau. Kehrte er in die USA zurück, drohte auch ihm eine Gerichtsverhandlung und eine Verurteilung zu einer langjährigen, womöglich lebenslänglichen Haftstrafe.

 „Anything to say?“ – ein Kunstwerk des italienischen Bildhauers Davide Dormino. Es ist Ausdruck seines Respekts gegenüber den Whistleblowern Edward Snowden (Figur links) und Chelsea Manning (rechts) sowie dem Publizisten Julian Assange (Mitte). Foto: Davide Dormino, Lizenz CC-BY-SA-4.0

Alle drei – Manning, Assange und Snowden – wurden oder sollen nach dem amerikanischen Spionagegesetz, dem Espionage Act, verurteilt werden. Mit großem Engagement setzte und setzt sich Daniel Ellsberg für die Freiheit der Whistleblower Manning und Snowden und des Publizisten Assange ein. Er selbst ist einem ähnlichen Schicksal knapp entkommen, obwohl auch er nach demselben Gesetz angeklagt war.

1. Daniel Ellsbergs Enthüllungen: Eine Kurzzusammenfassung

Daniel Ellsberg, ein ehemaliger Mitarbeiter des amerikanischen Verteidigungsministeriums, häufig auch Pentagon[1] genannt, ließ den amerikanischen Zeitungen „The New York Times“, „The Washington Post“ und 17 weiteren Medien im Frühling 1971 Kopien von einem 7000 Seiten umfassenden Regierungsdokument zukommen. Es handelte sich dabei um eine Studie, den einen genauen Ablauf des Vietnamkrieges enthielt und streng geheim gehalten worden ist. Heute ist die Studie bekannt als die „Pentagon Papers“.

Das Dokument zeigte auf, dass die Realität des Vietnam Krieges sich stark von dem Bild unterschied, welches die amerikanische Regierung für die Öffentlichkeit von dem Krieg zeichnete. Es enthielt Informationen über ungerechtfertigte Angriffe und nicht sinnvolle militärische Handlungen. Deutlich zeigte die Studie, dass der Krieg lange vorbereitet worden ist und beurteilte die Erfolgsaussichten auf einen militärischen Sieg als sehr gering, während der amerikanischen Bevölkerung genau das Gegenteil vermittelt worden ist.

Infolge der Veröffentlichung veränderte sich die Haltung der amerikanischen Öffentlichkeit zum Vietnamkrieg. Die Akzeptanz schwand, es kam vermehrt zu Protesten und Friedensforderungen. Zeitgleich wurden Machtmissbrauchsfälle der Regierung, unter anderem, aber nicht nur im Prozess gegen Daniel Ellsberg, bekannt. Die Regierung verlor ihre Glaubwürdigkeit und Präsident Richard Nixon drohte ein Amtsenthebungsverfahren, dem er zuvorkam, indem er am 09. August 1974 zurücktrat. Neun Monate später endete der Vietnamkrieg.

2. Daniel Ellsbergs berufliche und private Laufbahn vor der Veröffentlichung der Pentagon-Dokumente, 1931 – 1970

Daniel Ellsberg wurde am 07. April 1931 in Chicago (Illinois) geboren, wuchs aber in Bloomfield Hills bei Detroit (Michigan) auf. Im Alter von 15 Jahren verlor er seine Mutter und seine Schwester bei einem nächtlichen Autounfall, bei welchem sein Vater am Steuer eingeschlafen war. In einem Interview mit dem kanadischen Nachrichtensender CBC News aus dem Jahr 2018 äußerte er sich zu diesem Drama und stellte rückblickend – mit viel zeitlicher Distanz sowohl zu der Familientragödie, als auch zu seinen Enthüllungen über den Vietnam Krieg – eine Parallele zwischen seinen Erkenntnissen aus dem Unfall und aus seiner Arbeit für das amerikanische Verteidigungsministerium her:

Der tödliche Autounfall wie auch seine Erfahrungen im Pentagon hätten ihn gelehrt, dass gute Menschen böse Entscheidungen treffen konnten, und dass die ihnen unterstellten Personen ihnen gehorchten, obwohl sie wissen, dass es falsch ist, das zu tun. Denn Daniel Ellsberg gibt die Schuld am Unfall im Nachhinein seinen Eltern: Seine Mutter hätte darauf bestanden, die Nacht durchzufahren, weil sie es eilig gehabt habe, und sein Vater hätte sich ihrem Willen gebeugt, obwohl er lieber eine Pause gemacht hätte[2].

Daniel Ellsberg studierte nach seinem Schulabschluss Wirtschaftswissenschaften an der Harvard Universität in Cambridge, Massachusetts. Als Klassenbester hatte er ein Stipendium für diese weltweit berühmte Eliteuniversität erhalten. 1952 schloss er sein Harvard-Studium mit „Summa cum laude“ ab und wechselte ans King’s College der Universität Cambridge in England.

Im Jahr 1953 begann Ellsbergs Militärlaufbahn. Er pausierte sein Studium, um sich für drei Jahre als Offizier dem US Marine Corps anzuschließen. Ab 1957 verfolgte er als Junior Fellow wieder seine wissenschaftliche Karriere an der Harvard Universität. Als er im Jahr 1962 in seinem Fach, den Wirtschaftswissenschaften, promovierte, war er bereits Mitglied der RAND Corporation, einer Denkfabrik, die vom amerikanischen Militär gegründet worden ist und bei ebendiesem eine Beraterfunktion hatte und bis heute hat.

Das Kernthema seiner Tätigkeit bei der RAND Corporation war atomare Kriegsführung, und so hatte er auch Zugang zu strengstens geheimen Atomkriegsplänen der US-Regierung. Bis heute ist die Weltbedrohung durch nukleare Waffen das wichtigste Thema seines Lebens und Wirkens (mehr)

Ab 1964 arbeitete Daniel Ellsberg für das Verteidigungsministerium als Sonderassistent des stellvertretenden Verteidigungsministers für internationale Sicherheitsfragen, John T. McNaughton. Der damalige Verteidigungsminister war Robert McNamara (Bild links).

Für ihn als Wissenschaftler, der sich seit Jahren mit der Entscheidungsfindung von Machtinhabern und den daraus folgenden Konsequenzen beschäftigte, war es eine wertvolle Perspektive, die Entscheidungsfindungsprozesse der Regierung aus nächster Nähe und von innen betrachten zu können[3].

1970 heiratete Daniel Ellsberg in zweiter Ehe Patricia Marx, mit welcher er bis heute verheiratet ist. Sie war eine Friedensaktivistin, und die Beziehung entwickelte sich während Ellsbergs Zeit im Pentagon und in Vietnam (siehe nächstes Kapitel). Auf seine zunehmend ablehnende Haltung dem Krieg gegenüber hatte sie einen starken Einfluss[4], doch nach einem Streit versöhnten sich Ellsberg und Marx erst kurz vor der Veröffentlichung der Pentagon Papers wieder. Daniel Ellsberg hatte schon vor seiner Beziehung mit Patricia Marx die beiden Kinder Mary (heute Wissenschaftlerin der Epidemiologie) und Robert (heute Chefredakteur und Herausgeber des christlichen Verlages Orbis Books), und bekam im Jahr 1977, nach seinen Enthüllungen und den juristischen Folgen, gemeinsam mit seiner Frau noch den Sohn Michael (heute Autor und Blogger).

3. Ellsberg in Vietnam und Washington, 1961 – 1967  

Mit dem Vietnamkrieg kam Daniel Ellsberg schon mehrfach in Berührung, bevor er einen Posten im Pentagon annahm und bevor die USA 1964 in den Krieg eintraten. Der Vietnamkrieg hatte bereits 1955 begonnen, und Amerika hatte auch schon zahlreiche Militärberater in Südvietnam stationiert, half bei der militärischen Ausbildung südvietnamesischer Truppen und lieferte Waffen. Auch verdeckte US-militärische Aktionen, wie Luftangriffe gegen nordvietnamesische Dörfer, hatten bereits stattgefunden.

Ellsberg reiste im August 1961 mit einer Arbeitsgruppe zu den Militärbasen nach Vietnam, die sich mit der Erforschung und Entwicklung einer begrenzten Kriegführung (das Gegenteil davon ist die totale Kriegführung) beschäftigte. Dieses von John F. Kennedy initiierte Projekt war neu und progressiv, denn der Investitionsschwerpunkt lag damals auf der Erforschung atomarer Kriegsführung. Im nächsten Jahr setzte sich Ellsberg wissenschaftlich mit Kriegen auseinander, die entstanden waren, ohne von einer der beiden Kriegsparteien gewollt worden zu sein, und der Vietnamkrieg rückte wieder in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit.

Zufällig fiel Daniel Ellsbergs erster Arbeitstag als Mitarbeiter im Verteidigungsministerium im August 1964 auf den Tag, an dem sich der sogenannte Tonkin-Zwischenfall ereignete. In der Öffentlichkeit verkündete der US-Präsident Lyndon B. Johnson, zwei amerikanische Kriegsschiffe seien vor der Küste Nordvietnams ohne Grund von nordvietnamesischen Patrouillenbooten beschossen worden.

Infolgedessen entschied Johnson sogleich, Bombeneinsätze aus der Luft über Nordvietnam zu starten. Am 07. August wurde im amerikanischen Kongress die Tonkin-Resolution verabschiedet. Dies kam einer Kriegserklärung an Nordvietnam gleich, ohne dass diese direkt ausgesprochen werden musste.

Präsident Lyndon B. Johnson bei einer Fernsehansprache zur Bombardierung Nordvietnams 1964

Heute ist unbestritten, dass der nordvietnamesische Angriff auf die amerikanischen Schiffe eine bewusst gestreute Falschmeldung war[5], um einen Vorwand für den Kriegseintritt zu haben, der schon lange zuvor geplant worden ist. Nicht nur die Pentagon Papers haben darüber Aufschluss gegeben, auch Robert McNamara bestätigte es in seinen 1995 erschienenen Memoiren.

Daniel Ellsberg bekam von seinem neuen Posten im Pentagon aus mit, was vor sich ging. Er las die amtlichen Telegramme, die direkt aus Vietnam eingingen. Tatsächlich hatte es kurzzeitig Vermutungen über Angriffe seitens Nordvietnam gegeben. Zuvor hatten aber auch amerikanische Angriffe stattgefunden, die die Regierung vor der Öffentlichkeit oder dem Kongress niemals erwähnt hatte[6].

Dass die Regierung Tatsachen verdrehte, war für Ellsberg nicht mehr neu, ein solches Verhalten hatte er schon in seinen regierungsnahen Positionen in den Jahren zuvor mitbekommen, und er nahm dies hin. Rückblickend sagte er 2003:

The public is lied to every day – by the President, by his spokes people, by his Officers. If you can’t handle the thought that the President lies to the public for all kinds of reasons, you couldn’t stay in the government (…) a week. [7]

Übersetzung: “Die Öffentlichkeit wird jeden Tag angelogen – vom Präsidenten, seinen Sprechern und seinen Offizieren. Wenn man mit dem Gedanken nicht klarkommt, dass der Präsident die Öffentlichkeit aus verschiedensten Gründen anlügt, könnte man es nicht einmal eine Woche in der Regierung aushalten.“

Mitte 1965 wechselte Daniel Ellsberg ins Außenministerium und trat an zu einem freiwilligen Einsatz in Vietnam, der im Juni 1967 aufgrund einer Hepatitis-Erkrankung endete. Er ging seiner eigenen Aussage zufolge, um den Krieg noch besser begreifen zu können. Von Washington aus sei das nicht möglich gewesen.

Die Eindrücke, die er mit nach Hause nach Amerika brachte, waren geprägt von Frust, Hoffnungslosigkeit und sinnlosem Töten und Sterben. Ihm war bewusst geworden, dass die Niederlage nur noch hinausgezögert werden konnte[8] und dass die Verwaltungsbeamten und Politiker in und um die amerikanische Regierung nicht genug über die Situation und die Probleme vor Ort in Vietnam wussten, um angemessene Entscheidungen treffen zu können. Seine Feststellungen teilte er in Briefen, unter anderem an Robert McNamara, mit[9]

4. Die Entstehung der Pentagon Papers

Als Daniel Ellsberg aus Vietnam zurückkehrte, schloss er sich wieder der RAND Corporation an und beteilige sich an einem von Verteidigungsminister McNamara initiierten Projekt: Der Erstellung einer Studie, die die Entscheidungen der US-Regierung im Vietnamkrieg und deren Folgen chronologisch dokumentiert. Mit Hilfe einer solchen Studie sollte analysiert werden, wie es passieren konnte, dass die USA in Vietnam in eine derart aussichtslose Position gekommen waren. Diese Studie, die Ellsberg später der Presse zukommen ließ, hieß damals „U.S. Desicion-making in Vietnam, 1945 – 1968“ und ging als Pentagon Papers in die Geschichte ein.

Zu dieser Zeit sprach sich Robert McNamara zwar öffentlich für den Krieg aus und beteuerte, er sei optimistisch hinsichtlich der Lage in Vietnam, doch intern vertrat er diese Meinung nicht mehr. Stattdessen empfahl er dem Präsidenten Johnson einen Rückzug der Truppen, eine Beendigung der Bombardierungen und eine nicht-militärische Konfliktlösung, was der Präsident zurückwies.

Ellsberg war als einziger Forscher an der Studie beteiligt und hatte auch als einziger Forscher einen Zugang zu dem kompletten, mehr als 7.000 Seiten umfassenden Dokument. Es ist anzunehmen, dass er bis heute zu einer sehr kleinen Anzahl von Menschen gehört, die das Dokument komplett gelesen haben. In seinem Buch „Ich erkläre den Krieg“ vermutet Ellsberg, ihn eingeschlossen hätten vor ihrer Veröffentlichung nur drei Menschen die gesamte Studie gelesen und „sich von ihr ändern lassen“[10].

5. Die Veröffentlichung der Pentagon Dokumente 

5.1 Beweggründe und Einflüsse

Die von McNamara in Auftrag gegebene Studie war ein streng geheimes Dokument, das ausschließlich für Regierungskreise bestimmt war. Daniel Ellsberg war klar, dass ihm persönlich verheerende Konsequenzen drohten, wenn er sie Unbefugten weitergab – vermutlich eine lebenslange Haftstrafe. Was bewegte ihn dazu, das Risiko einzugehen? 

Wie erwähnt, ging Daniel Ellsberg davon aus, dass außer ihm nur zwei weitere Menschen die damals streng geheime Studie komplett gelesen hatten. Anders als die anderen beiden Personen war Ellsberg selbst in Vietnam gewesen und hatte einen emotionalen Bezug zur vietnamesischen Bevölkerung aufgebaut. Dies hatte in ihm ein besonderes Verantwortungsgefühl geweckt[11].

Die Studie hatte ihm gezeigt, dass vier Präsidenten – Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower, John F. Kennedy (Bild rechts, 1962) und Lyndon B. Johnson – trotz vernünftiger Ratschläge und Lagebeurteilungen, die sie von ihren eigenen Beratern und Ministern bekommen hatten, falsche Entscheidungen getroffen und die Öffentlichkeit hinsichtlich der amerikanischen Interventionen und deren Legitimität belogen hatten.

Zugleich bekam er durch seine regierungsnahen Beziehungen mit, dass sich ein solches Verhalten fortzusetzen drohte, denn obwohl Richard Nixon, der sein Präsidentenamt 1969 antrat, einen ehrenvollen Frieden versprochen hatte, wurde deutlich, dass er den Krieg nicht nur weiterführen wollte, sondern sogar eine Eskalation in Erwägung zog[12].

In Daniel Ellsberg machte sich die Erkenntnis breit, dass sinnvolle interne an den Präsidenten gerichtete Vorschläge keine echte Lösung sein konnten, um den Krieg zu beenden. Der Einfluss musste von außen kommen, von der Öffentlichkeit und vom Kongress. Daniel Ellsberg schreibt in seinem Buch

„Ich erkläre den Krieg“: „Als ich die Pentagon Papiere veröffentlichte, handelte ich in der Hoffnung, dass die Wahrheiten, die mich verändert haben, den Amerikanern helfen könnten, sich selbst und die anderen Opfer von unserem längsten Krieg zu befreien.“[13]

Den Mut, das hohe Risiko einzugehen, fand Ellsberg durch die Kontakte zu Friedensaktivisten und Kriegsdienstverweigerern, die er in der Zwischenzeit aufgebaut hatte. Er hatte begonnen, seine ganze Karriere zu hinterfragen und Menschen, die den Kriegsdienst verweigerten und dafür bereit waren, eine Gefängnisstrafe in Kauf zu nehmen, als Helden zu betrachten, bis er schließlich selbst bereit dazu war, es ihnen gleich zu tun und für die Chance, zur Beendigung des Krieges beitragen zu können, seine Karriere zu opfern und ins Gefängnis zu gehen[14].

„Es war mir immer klar, dass ich nie daran gedacht hätte, die Papiere zu veröffentlichen, wenn mir nicht Menschen, die über das Demonstrieren und Briefeschreiben hinausgegangen sind, als Beispiele vorangegangen wären“, erklärte er in einem Interview von 1980[15].

Den größten Einfluss auf Ellsbergs Entscheidung, die Pentagon Dokumente zu veröffentlichen, hatte sein Ex-Kollege bei der RAND-Corporation, Anthony Russo. Er hatte Daniel Ellsberg nicht nur dazu ermutigt, mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit zu gehen, sondern hatte ihm auch beim langwierigen Kopiervorgang geholfen und war letztendlich sein Mitangeklagter gewesen. Ihm drohte eine Höchststrafe von 35 Jahren Haft. Leider ist Anthony Russo historisch weitgehend vergessen. Der nachfolgende kurze Exkurs soll einige Informationen über ihn liefern. Tiefgehender befasst sich der Artikel „The Unknown Whistleblower“ von Barbara Myers mit ihm. Er ist die wohl ausführlichste Abhandlung über Anthony Russo, die im Internet zu finden ist, und liefert auch Wissenswertes über die Rolle der RAND Corporation im Vietnamkrieg.

5.2 Exkurs: Wer war Anthony Russo?

Genau wie Daniel Ellsberg, arbeitete auch Anthony Russo (geb. 1936) bei der RAND Corporation. Zuvor war er bei der NASA beschäftigt gewesen und hatte danach Maschinenbau und einen Studiengang namens „public affairs“ ( übers. „öffentliche Angelegenheiten“) an der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs (übers. Woodrow Wilson Hochschule für öffentliche und internationale Angelegenheiten) studiert.

Er kam 1965 als Wissenschaftler nach Vietnam, um dort die Motivation und die Moral des Vietcong anhand von Befragungen Kriegsgefangener zu erforschen. Dabei lernte er Vietcong-Kämpfer und deren Sichtweisen in intensiven Verhören kennen und begriff, dass sein amerikanisches Verständnis vom Vietnamkrieg als Akt der Befreiung nicht der Realität entsprach. Außerdem wurde er Zeuge, dass die amerikanischen Truppen die von ihnen gefangen genommenen Vietcong-Kämpfer schwer folterten, vietnamesische Dörfer durch Bombenanschläge nahezu komplett auslöschten und dass die Vergiftung von Lebensmitteln durch chemische Mittel Hungersnöte bei der vietnamesischen Bevölkerung auslöste.

Das deutsche Hospitalschiff Helgoland war 1967 bis 1972 vornehmlich damit beschäftigt zivile Opfer in Vietnam zu versorgen, hier im Hafen von Hanoi.

Russos Aufgabe war es, Protokolle von den Gefangenenbefragungen anzufertigen und er dokumentierte die Misshandlungen in seinen Protokollen detailliert, auch wenn ihm von seinem Vorgesetzten verboten worden war, die Folterungen in seinen Berichten zu erwähnen. Bei seiner Rückkehr in die USA 1968 gab er seinen schriftlichen Bericht bei der RAND Corporation ab, doch dieser wurde nie veröffentlicht, sondern verschwand folgenlos. Es wird angenommen, dass er entweder vernichtet wurde oder bis heute in den Archiven der RAND Corporation versteckt liegt. Russo verlor nach der Einreichung seines Berichts seine Anstellung bei RAND, doch der Kontakt zu Ellsberg blieb nicht nur bestehen, sondern intensivierte sich.

Anthony Russo versuchte öffentlichkeitswirksam zu vermitteln, dass RAND aus finanziellen Gründen, da die Forschungen des Think Tanks von der Air Force, der amerikanischen Luftstreitkraft, finanziert worden waren, falsche Prognosen hinsichtlich der Kriegsverlaufs geliefert hatte und dass die Bombardierungen Vietnams vor allem deshalb so lange fortgeführt wurden. Doch seine Berichte gelangten nicht in die Medien und somit nicht an die Öffentlichkeit.

Als Russo gemeinsam mit Ellsberg angeklagt war, bot ihm die Staatsanwaltschaft eine Zusammenarbeit an. Er sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegen Ellsberg aussagen. Russo lehnte dies nicht nur ab, sondern erzählte im Beisein der Presse von dem Angebot. Später sagte er, die Maxime von Mahatma Ghandi hatte ihn dazu bewogen, sofort abzulehnen: „Verbünde dich nie mit dem Bösen“.[16]

Anthony Russo verstarb am 06. August 2008 im Alter von 71 Jahren. Zwei Jahre später, im Jahr 2010, erschien ein Buch über die Aktivitäten der RAND Corporation während des Vietnamkriegs von Mai Elliott, einer ehemaligen RAND-Mitarbeiterin, die ebenfalls bei den Befragungen der Vietcong-Kämpfer dabei gewesen ist. Es trägt den Titel „RAND in Southeast Asia: A History of the Vietnam War Era“ und bestätigt Russos Beobachtungen von Folter und Misshandlungen Kriegsgefangener.

6. Die Veröffentlichung der Pentagon Papers in der Presse

Im Oktober 1969 begann Daniel Ellsberg mit dem Kopieren der Pentagon Dokumente auf einem von Anthony Russo organisierten Kopiergerät. Er nahm jeden Abend einige Ordner mit, kopierte sie Seite für Seite und brachte sie am Morgen wieder mit zur Arbeit, um sie unauffällig zurückzulegen. Daniel Ellsberg hatte damals schon zwei Kinder im frühen Teenageralter, die er in den Kopiervorgang mit einbezog, um ihnen, wie er später erklärte, deutlich zu machen, wie wichtig ihm die Sache ist und dass er die Entscheidung bewusst und wohlüberlegt getroffen hatte.

Ellsberg ging mit der Studie nicht direkt zur Presse, sondern wandte sich zunächst an den Kongress; konkret übergab er sie an den Senator William Fulbright, der damals Vorsitzender des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen war. Doch aus Angst vor der Reaktion der Regierung traute sich Fulbright nicht, die Inhalte der Studie im Senat anzusprechen. Stattdessen forderte er die Studie offiziell an, doch sein Antrag wurde abgelehnt. 

Als die Weitergabe der Studie an den Senator folgenlos blieb, wandte sich Daniel Ellsberg schließlich im März 1971 an Neil Sheehan, einen Reporter der amerikanischen Tageszeitung The New York Times, der die umfangreiche Studie gemeinsam mit seinen Kollegen monatelang las. Am 13. Juni 1971 erschien der erste Bericht über ihren Inhalt in der New York Times. Im Vorfeld hatte es starke Auseinandersetzungen innerhalb der Redaktion gegeben, ob die Zeitung es wagen kann, den Inhalt dieser streng geheimen Dokumente zu veröffentlichen oder ob den Redakteuren womöglich Gefängnisstrafen drohen könnten.

Zunächst war die New York Times die einzige Zeitung gewesen, die die Pentagon Papers von Daniel Ellsberg erhalten hatte. Die Reporter hatten Ellsberg als ihre Quelle nicht preisgegeben. Doch nach wenigen Artikeln zu dem brisanten Thema erhielt die Tageszeitung eine anwaltliche Drohung seitens der Nixon-Regierung, weitere Veröffentlichungen zu unterlassen – ansonsten werde Anklage gegen die Zeitung erhoben.

Daraufhin ergriff Daniel Ellsberg eine weitere Initiative und versorgte auch die Zeitung The Washington Post und 15 weitere Zeitungen mit seinen Kopien. Auch diese Medien berichteten und es kam doch zum Rechtsstreit vor dem Obersten Gericht. Angeklagt waren die New York Times und die Washington Post, die beiden größten Zeitungen, die zugleich die ersten gewesen waren, die Artikel zu den Pentagon Papers veröffentlicht hatten.

President Robert Nixon -presidential portrait

Der Oberste Gerichtshof fällte sein Urteil zugunsten der Zeitungen und gegen die Regierung. Ein Ausschnitt aus der Urteilsbegründung lautet:

The press must be left free to publish whatever the source without censorship, injunction or prior restraint. The press was meant to serve the governed, not the governors.[17]

Übersetzung: “Die Presse muss, unabhängig von ihrer Quelle, frei und ohne Zensur, einstweilige Verfügung oder vorherige Einschränkungen veröffentlichen dürfen. Die Presse soll den Regierten dienen, nicht den Regierenden.“

Für die amerikanische Gewaltenteilung und das Verhältnis zwischen Presse und Regierung war das ein sehr bedeutendes, bis heute vielzitiertes Urteil. Mehr dazu im Kapitel Die Konsequenzen der Pentagon Papers für die USA.

Der New York Times Reporter Neil Sheehan ist kürzlich, am 07. Januar 2021, im Alter von 84 Jahren verstorben. Auch wenn er in Deutschland nicht besonders bekannt war, haben mehrere deutsche Medien über seinen Tod berichtet, wie die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel und die ZEIT. Im Jahr 2018 erschien der Spielfilm „Die Verlegerin“ (Originaltitel: „The Post“) von Steven Spielberg, der die Geschehnisse von 1971 rund um die Pentagon Papers und die amerikanische Presse detailliert aus der Sicht der Herausgeberin der Washington Post wiedergibt.

7. Der Prozess gegen Daniel Ellsberg

Das FBI hatte Hinweise aus Ellsbergs Bekanntenkreis erhalten, dass er für die Weitergabe der Dokumente an die Presse verantwortlich ist und begann ihn zu suchen. Zunächst tauchte Daniel Ellsberg unter, doch schließlich gab er sein Handeln in der Öffentlichkeit zu. Davon, wie er, umringt von Kriegsgegnern und Reportern, verkündet, er hätte eigenverantwortlich gehandelt und sei bereit, alle Konsequenzen für seine Handlungen zu tragen, gibt es Videoaufnahmen[18].

Ellsberg wurde unter anderem nach dem amerikanischen Spionagegesetz (Espionage Act) wegen des nicht-autorisierten Besitzes und Diebstahls der Pentagon-Dokumente angeklagt. Insgesamt bestand die Anklageschrift aus 12 Verbrechen und ihm drohte eine Höchststrafe von 115 Jahren. Sein Helfer Anthony Russo wurde in drei Punkten angeklagt und hätte zu maximal 35 Jahren Haft verurteilt werden können.

Die Besonderheit am Prozess gegen Ellsberg und Russo war, dass es dafür keinen Präzedenzfall gab. Noch nie hatte die Regierung jemanden für die Weitergabe geheimer Dokumente an die Presse angeklagt. Doch auch wenn das, was Daniel Ellsberg getan hatte, damals noch einmalig war, war er durchaus auf eine schwere Strafe vorbereitet gewesen. In einem Interview mit der ZEIT vom 09. Juni 2015 sagte er rückblickend:

„Ich ging davon aus, dass ich für den Rest meines Lebens ins Gefängnis kommen würde. Mit guter Führung wäre ich wohl nach 35 Jahren rausgekommen. Aber ich bin nicht sicher, wie ich mich geführt hätte …“[19].

Doch ein solches Schicksal blieb ihm erspart. Daniel Ellsberg war zwei Jahre lang angeklagt, musste aber nicht in Untersuchungshaft sitzen, sondern war frei. Er gab sogar als Gast in Fernsehsendungen Interviews und sprach über die Dokumente und seine Beweggründe. Außerdem hielt er regelmäßige Pressekonferenzen ab, die er unter anderem dazu nutze, die Anzahl der wöchentlich über Vietnam abgeworfenen Bomben zu verkünden. Am 11. Mai 1973 wurden alle Anklagepunkte gegen Daniel Ellsberg und Anthony Russo fallengelassen. 

Grund hierfür war kriminelles Fehlverhalten des Klägers, also der amerikanischen Regierung unter Richard Nixon. Der Präsident hatte eine Arbeitsgruppe zusammenstellen lassen, deren Aufgabe es gewesen ist, Ellsberg öffentlich zu diskreditieren. Präsident Nixon soll damals die Befürchtung gehabt haben, Daniel Ellsberg hätte auch in seiner eigenen Regierungszeit entstandene Kriegspläne kopiert und könnte diese ebenfalls veröffentlichen.

Um an sensible Daten über Ellsberg zu gelangen, organisierte diese Gruppe einen Einbruch in die Praxis von dessen Psychiater. Außerdem traf sich Nixons Vertrauensmann John Erlichman mit dem vorsitzenden Richter beim Verfahren gegen Ellsberg, um ihm den Posten eines Direktors beim FBI anzubieten, und zudem stellte sich heraus, dass Ellsbergs Anwälte im Auftrag der Regierung abgehört worden sind. Der Richter begründete das Fallenlassen der Anklage damit, dass die Manipulationen der Regierung ein faires Verfahren unmöglich gemacht hätten[20].

8. Die Konsequenzen der Veröffentlichung der Pentagon Papers für die USA

Auch wenn Daniel Ellsberg nach der Veröffentlichung der Pentagon Papiere zunächst enttäuscht war, weil die Reaktionen der Öffentlichkeit nicht so intensiv waren, wie er sich das erwünscht hatte und der Krieg unverändert weiterging, hatte sie im weiteren Verlauf doch historische Konsequenzen auf mehreren Ebenen.

8.1 Amtsrücktritt Richard Nixons

Im Juni 1971 ist der Inhalt der Pentagon Papiere von der New York Times zum ersten Mal veröffentlicht worden, es folgten zahlreiche weitere Berichterstattungen in zahlreichen Medien. Im November 1972 ist Richard Nixon zunächst dennoch wiedergewählt worden. Doch seine extreme Reaktion auf die Veröffentlichung der Pentagon Studie hatte für den aufbrausenden Präsidenten, von dem es Tonbandaufnahmen gibt, wie er Daniel Ellsberg mit wüsten Ausdrücken beschimpft, keine guten Folgen.

Der Einbruch bei Ellsbergs Psychiater wurde zu einem Skandal, und fast zeitgleich begannen auch die medialen Enthüllungen rund um die Watergate-Affäre, heute ein zusammenfassender Begriff für verschiedene Machtmissbräuche seitens der Nixon-Regierung. Schließlich wurde gegen Nixon ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet, und um der Enthebung zuvor zu kommen, trat Nixon am 08. August 1974 von seinem Präsidentenposten zurück.

8.2 Kriegsende in Vietnam

Unmittelbar nachdem Ellsbergs und Russos Prozess eingestellt worden ist, begann der Kongress mit der Streichung der Gelder für den Vietnamkrieg, bis es schließlich ab dem 15. August 1973 keine finanzielle Unterstützung für den Krieg mehr gab. In der amerikanischen Öffentlichkeit hatte ein Stimmungswandel stattgefunden – die Forderungen nach einem Frieden in Vietnam waren immer lauter geworden, das Misstrauen gegenüber der Regierung immer größer. Neun Monate nach Nixons Rücktritt endete schließlich der Vietnamkrieg am 30. April 1975.

8.3 Verhältnis zwischen Regierung und Presse

Das Urteil, das der Oberste Gerichtshof damals zugunsten der Zeitungen The New York Times und The Washington Post gefällt hatte, gilt bis heute als wichtiges Präzedenzurteil zum Schutz der Presse gegen die Restriktionen der Regierung. In den USA gibt es den 1. Zusatzartikel zur Verfassung (engl. First Amendment). Dieser verbietet es der Regierung, die Redefreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Petitionsrecht einzuschränken, und Nixons Drohung und Klage gegen die Zeitungen nach ihrer Berichterstattung zum Inhalt der Pentagon Dokumente wurde juristisch als unzulässiger Zensurversuch gewertet, also als Missachtung des 1. Zusatzartikels. Damit stärkte der Oberste Gerichtshof die Funktion der Medien als unabhängiges Organ zur Kontrolle der Regierung.

9. Daniel Ellsbergs Leben und Wirken nach der Veröffentlichung der Pentagon-Studie, 1971 – 2021

Der heute (Stand: April 2021) 90-jährige Daniel Ellsberg lebt mit seiner Frau Patricia in Kalifornien und engagiert sich nach wie vor als Antikriegsaktivist, für soziale Gerechtigkeit und als Fürsprecher und Unterstützer der heute bekannten Whistleblower.

In den 50 Jahren seit der Veröffentlichung der Pentagon Papers hat sich Daniel Ellsberg als Redner, Kursleiter und Autor von Büchern und Artikeln betätigt. Seine Hauptthemen sind der Vietnamkrieg und die Bedrohung des Planeten durch Nuklearwaffen. Im Jahr 1972 schrieb er sein erstes Buch über den damals noch wütenden Vietnamkrieg. Es trägt den Titel „Papers on the war“. Die deutsche Übersetzung erschien zehn Jahre später, 1982, unter dem Titel „Ich erkläre den Krieg. Vietnam – Der Mechanismus einer militärischen Eskalation“.

2002 veröffentlichte Ellsberg die Autobiografie „Secrets: A Memoir of Vietnam and the Pentagon Papers“, von welcher es bislang keine deutsche Übersetzung gibt, ebenso wie zu seinem neusten Buch über und gegen atomare Aufrüstung mit dem Titel „The Doomsday Machine – Confessions of a Nuclear War Planner“ von 2017. Im Laufe seines Lebens hat Daniel Ellsberg immer wieder an Protestaktionen teilgenommen, meist handelte es sich um Anti-Atomwaffen-Aktionen. Seinen eigenen Aussagen zufolge ist er etwa 70 Mal wegen gewaltfreiem zivilem Ungehorsam verhaftet worden.

1992 war Ellsberg Mitbegründer des Manhatten Project II[21] mit dem Ziel einer Beendigung des atomaren Wettrüstens und zunächst einer Reduzierung und schließlich einer vollständigen Abschaffung von Nuklearwaffen. Zuletzt sprach er am 16. März 2021 mit den Journalisten Matt Taibbi und Katie Halper in deren Sendung „Useful Idiots“ über dieses für ihn so bedeutende Thema.

Ellsberg unterstützte Chelsea Manning[22] finanziell und sagte im ZEIT-Interview von 2015, er fühle eine strake Verbundenheit mit ihr sowie mit Edward Snowden, für den er Asyl in Westeuropa forderte[23]. Im September 2020 war Ellsberg im Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange an die USA als Zeuge geladen. Er ergriff Partei für den australischen Publizisten und zog Parallelen zwischen den WikiLeaks-Veröffentlichungen über die Irak- und Afghanistan-Kriege und der Veröffentlichung der Pentagon Papers[24].

Dass er als Mitarbeiter in der Regierung aus nächster Nähe mitbekommen hatte, dass Politiker häufig nicht die Wahrheit sagen, hat Ellsberg nicht politikverdrossen gemacht. Er setzt sich für demokratische Prinzipien ein und wirbt öffentlich dafür, zur Wahl zu gehen, selbst wenn die Kandidaten nicht ehrlich sind. 2010 sagte er:

„I’m much too old to imagine that I will ever have the chance to vote for a politician who will not lie to us about what he is doing.“[25]

(Übersetzung: „Ich bin zu alt, um mir vorzustellen, dass ich jemals die Chance haben werde, einen Politiker zu wählen, der uns nicht anlügt über die Dinge, die er tut.“).
Daniel Ellsberg nimmt den Dresdner Friedenspreis entgegen. Bild: Dr. Bernd Gross, Lizens CC BY-SA 4.0

Im Jahr 2006 erhielt Daniel Ellsberg zu Ehren seiner Veröffentlichung der Pentagon Papers den Right Livelihood Award. Dieser Preis wird verliehen an Menschen, die sich für die Gestaltung einer besseren Welt einsetzen und ist, vor allem im deutschsprachigen Raum, als „Alternativer Nobelpreis“ bekannt. Am 21. Februar 2016 wurde Daniel Ellsberg als „Urvater der Whistleblower“[26] mit dem Dresdner Friedenspreis geehrt.

Und der heutige Umgang mit den Pentagon-Dokumenten? Im Jahr 2011, 40 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, sind die Pentagon Papers unter ihrem offiziellen Titel „United States – Vietnam Relations, 1945-1967: A Study Prepared by the Department of Defense” von der amerikanischen Regierung freigegeben worden. Sie können von jedermann auf der Webseite des amerikanischen Nationalarchivs (NARA) heruntergeladen werden. Zusätzlich sind sie vollständig direkt vor Ort im Nationalarchiv in der Kleinstadt College Park im US-Bundesstaat Maryland sowie in drei Präsidentenbibliotheken einsehbar.

Fazit: Whistleblower-Schutz und Pressefreiheit damals und heute

Hat Daniel Ellsberg sein Leben in Freiheit nur dem unprofessionellen Verhalten der Nixon-Regierung während seines Prozesses zu verdanken? Waren es die Anti-Kriegshaltung und Sympathie der Öffentlichkeit ihm gegenüber, die die Justiz beeinflusst haben? Ebenso wie heute Chelsea Manning, Julian Assange und Edward Snowden viel Rückhalt in der weltweiten Öffentlichkeit erfahren und auch weniger bekannte Whistleblower im Allgemeinen ein hohes Ansehen genießen, war Daniel Ellsberg für viele Menschen damals ein mutiger Held, auch wenn die heutigen digitalen Plattformen noch gefehlt haben, um ihn international bekannt zu machen.

Was auch immer der ausschlaggebende Grund dafür war, dass Daniel Ellsberg und Anthony Russo ihre Leben in Freiheit leben durften: Dass die Justiz damals generell wohlwollender mit Whistleblowern umgegangen ist als heute, kann angesichts der Höchststrafen, die Ellsberg und Russo gedroht haben, jedenfalls nicht behauptet werden. Whistleblower sind heute sogar besser geschützt, denn inzwischen gibt es sowohl in den USA, als auch in der EU Gesetze zum Schutz vor Whistleblowern. Leider können diese noch immer umgangen werden, indem man Whistleblower als Spione anklagt und so doch zu Kriminellen macht. Das ist in den USA in den letzten Jahren immer wieder geschehen. Verurteilt wurden neben Chelsea Manning unter anderen die Whistleblower John Kiriakou im Jahr 2013 zu 30 Monaten und, im Jahr 2018, Reality Winner zu fünf Jahren und drei Monaten Haft.

Die Pressefreiheit aber erfuhr damals, im Rechtsstreit der New York Times und der Washington Post gegen die US-Regierung, eine starke juristische Bestärkung. Heute sehen internationale Journalistenverbände und Menschenrechtsorganisationen die Pressefreiheit weltweit als bedroht an[27].

Daniel Ellsberg hat durch die Veröffentlichung der Pentagon Papiere die Geschichte geprägt. Er hat den Stein zur Beendigung des Vietnamkriegs ins Rollen gebracht und sich danach 50 Jahre lang für eine friedlichere Welt eingesetzt. Er tut es noch heute, im Alter von 90 Jahren. Er selbst wird wohl nicht mehr in den Genuss kommen, in einer Welt zu leben, in der Regierungen unaufrichtige und menschenrechtswidrige Taten nicht zu verheimlichen versuchen, sondern gar nicht erst begehen. Aber vielleicht haben zukünftige Generationen die Chance auf eine Welt ohne Atomwaffen und Kriegsverbrechen.

Hinweis am 18.06.2023: Daniel Ellsberg ist am 16. Juni 2023 im Kreise seiner Familie verstorben. Im Februar 2023 ist bei ihm eine Bauchspeicheldrüsenkrebserkrankung festgestellt worden und Daniel Ellsberg hatte öffentlich verkündet, keine Chemotherapie machen, sondern seine letzten Monate genießen zu wollen. Nach Angaben seiner Familie war sein Tod sehr schön und friedlich. Möge Daniel Ellsberg in Frieden ruhen.


  • [1] Das Pentagon ist der Sitz des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Der Begriff wird häufig als Synonym für das Verteidigungsministerium verwendet.
  • [4] Patricia und Daniel Ellsberg erzählen von ihrer Beziehung und ihren persönlichen Spannungen hinsichtlich des Krieges ausführlich in dem Dokumentarfilm „Der gefährlichste Mann in Amerika – Daniel Ellsberg und die Pentagon Papiere“ aus dem Jahr 2009, der mit deutscher Übersetzung 2010 auf ARTE ausgestrahlt worden ist.
  • [7] Diese wörtliche Aussage hören Sie ebenfalls im Interview mit Harry Kreisler (s.o.), Minute 12:53 – 13:11
  • [8] Seine Eindrücke aus Vietnam schildert Ellsberg im selben Interview, Minute 15:00 – 17:00
  • [9] Einer von Ellsbergs Briefen an McNamara ist abgedruckt in seinem Buch „Ich erkläre den Krieg“ von 1972 auf S. 15/16. Er schreibt darin unter anderem: „Schon nach wenigen Monaten war ich von einem Sachverhalt überzeugt, den ich zuvor nur befürchtet hatte: daß (sic) nämlich die offiziellen Berichte (…) gänzlich ungeeignet dafür sind, diejenigen, die Entscheidungen auf höchster Ebene treffen, über die wesentlichen Probleme hier zu unterrichten.“
  • [10] „Ich erkläre den Krieg“, S. 39
  • [11] Dies erklärt Daniel Ellsberg in seinem Buch „Ich erkläre den Krieg“ auf S. 39.
  • [12] In dem Dokumentarfilm „Der gefährlichste Mann in Amerika – Daniel Ellsberg und die Pentagon-Papiere“ kann man ca. bei Minute 30 auf einer Tonbandaufnahme Nixons Stimme hören, wie sie verkündet, man müsse die ganze Macht des Landes einsetzen, um den Krieg zu gewinnen. https://www.youtube.com/watch?v=jG7QVA0VKMs
  • [13] „Ich erkläre den Krieg“, S. 39
  • [14] Daniel Ellsberg erzählt ausführlich von seinem Gesinnungswandel und einem Schlüsselerlebnis, das ihn schließlich zu der Entscheidung führte, die Pentagon Papers der Presse zukommen zu lassen, im bereits erwähnten Dokumentarfilm, ca. Minute 30 – 42.
  • [15] Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V: Aufruf zur Meuterei, Seite 49
  • [22] Seine Solidarität mit und Bewunderung für Chelsea (damals noch Bradley) Manning drückte Daniel Ellsberg ausgiebig aus, als er beim Frontline Club zu Gast war: WikiLeaks- Julian Assange and Daniel Ellsberg in conversation, etwa 1:17:00 – 1:22:00, https://www.youtube.com/watch?v=FFDdHMEpqeA
  • [24] Eine Zusammenfassung von Daniel Ellsbergs Zeugenaussage im Auslieferungsprozess gegen Julian Assange liefert der Prozessbeobachter Dustin Hoffmann in einem seiner Videoberichte vom Prozess, ab ca. Minute 10:00 https://www.youtube.com/watch?v=bQNdSvD61oI&t=2s
  • [27] Besorgt um die weltweite Pressefreiheit sind, im Zusammenhang mit dem Rechtsstreit zwischen der US-Regierung und Julian Assange, zum Beispiel die NGOs Reporter ohne Grenzen (Reporters Without Borders), Amnesty International, Human Rights Watch und Freedom of the Press Foundation. Gemeinsam haben diese und weitere Organisationen im Februar 2021 sich in einem offenen Brief an das US-Justizministerium der Biden-Administration gewandt, welcher unter anderem auf der Webseite von Amnesty International nachzulesen ist und hier heruntergeladen werden kann.
Literatur und Auswahlbibliographie

Interview, veröffentlicht 28.02.2018, Interview von Adrienne Arsenault mit Daniel Ellsberg
https://www.youtube.com/watch?v=1H-DDu24kVk

Der gefährlichste Mann in Amerika – Daniel Ellsberg und die Pentagon-Papiere (Originaltitel: The Most Dangerous Man in America: Daniel Ellsberg and the Pentagon Papers), 2009, Dokumentarfilm aus den USA.
Kompletter Film mit deutscher Tonspur: https://www.youtube.com/watch?v=eGYLxyLh8d8

Die Kriegslüge von Tonkin, 30.07.2014, https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2014-07/vietnam-krieg-usa-50-jahre

Die Enthüllung der Pentagon-Papiere hat die Presse gestärkt, 14.06.2011, https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2011-06/pentagon-papiere

Ellsberg, Daniel: Biographical Statement
https://www.ellsberg.net/bio/extended-biography/

Ellsberg, Daniel: Ich erkläre den Krieg. Vietnam – Der Mechanismus einer militärischen Eskalation. Carl Hanser Verlag, München. 1973 (Originaltitel: „Papers on the war“)

Forschungsinstitut für Friedenspolitik e.V.: Aufruf zur Meuterei: Dokumente von und über Daniel Ellsberg, Starnberg, Februar 1985

Frontline Club: WikiLeaks- Julian Assange and Daniel Ellsberg in conversation, veröffentlicht am 08.08.2012, Interview und Fragerunde vom 25.10.2010. Moderation: Elizabeth Palmer
https://www.youtube.com/watch?v=FFDdHMEpqeA

Hoelzgen, Joachim: Der Torpedo-Angriff, den es nie gab, 15.11.2005, https://www.spiegel.de/politik/ausland/vietnam-krieg-der-torpedo-angriff-den-es-nie-gab-a-384265.html

Locke, Stefan: Dresden-Preis für Ellsberg. Auch Snowden ist per Video dabei, 23.02.2016, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/dresden-preis-wird-an-friedensaktivist-daniel-ellsberg-verliehen-14084648.html

Matt Taibbi & Katie Halper’s Useful Idiots with Daniel Ellsberg, 16.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=HIPOoIbSEPM

Musharbash, Yassin: Interview mit Daniel Ellsberg, 09. Juni 2015, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-06/whistleblower-daniel-ellsberg-interview?page=2#comments

Myers, Barbara: The Unknown Whistleblower, 31.05.2015, https://tomdispatch.com/barbara-myers-the-unknown-whistleblower/

Neil Sheehan ist tot, 08.01.2021, https://www.spiegel.de/kultur/neil-sheehan-ist-tot-new-york-times-journalist-a-077f7494-39b2-4d0f-953d-c17d6b4302c1

Pitzke, Marc: Washington beichtet letzte Vietnam-Lügen, 09.06.2011,

https://www.spiegel.de/politik/ausland/pentagon-papers-washington-beichtet-letzte-vietnam-luegen-a-767493.html

Reporterlegende Neil Sheehan ist tot, 08.01.2021, https://www.zeit.de/kultur/2021-01/neil-sheehan-pentagon-papers-new-york-times-reporter-tod

University of California Television (UCTV): Conversations with History: Daniel Ellsberg, veröffentlicht am 08.02.2008, Interview aus dem Jahr 2003 von Harry Kreisler mit Daniel Ellsberg
https://www.youtube.com/watch?v=0y2wmpxM2VQ

Winkler, Willi: Der Mann, der die „Pentagon Papers“ veröffentlichte, 08.01.2021, https://www.sueddeutsche.de/medien/new-york-times-journalismus-neil-sheehan-1.5168950

„Wir brauchen Leute, die auspacken“: Interview von Andrea Böhm mit Daniel Ellsberg, 20.12.2006, https://www.zeit.de/2006/52/Interview_Ellsberg