Interview mit Sven Felix Kellerhoff zum Thema „Hitlers Macht und Führerkult“

Sven Felix Kellerhof im Interview

Auf welchen Bausteinen der Führerkult fußte, inwiefern Adolf Hitler von seinen Smalltalk-Fähigkeiten profitierte und ob man Hitler mit Donald Trump vergleichen darf?
Sven Felix Kellerhoff, leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte bei der WELT, beantwortet diese und andere spannende Fragen rund um den „Führerkult“ und Hitlers Macht im Dritten Reich … 

Sven Felix Kellerhoff ist Historiker, Buchautor und Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte bei der WELT. In seinen mehr als 30 Buchveröffentlichungen und tausenden Zeitungs- und Online-Artikeln seit 1993 hat er sich immer wieder intensiv mit der Vergangenheit Deutschlands zur Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt.

Das Interview führte unsere Autorin Jill Graw

Könige, Kaiser oder eben Diktatoren – liegt im Menschen eine Sehnsucht nach Führung?

Kellerhoff: Ja, offenbar. Das dürfte ein menschlicher Wesenszug sein: Es gibt Menschen, die nach Macht streben, was nicht per se schlecht sein muss – denn es gibt eben auch Menschen, die nicht so gut darin sind. Insofern ist Sehnsucht nach Führung nicht automatisch und immer verwerflich.

Adolf Hitler stammte aus einfachen Verhältnissen. Wie konnte er den Führerkult dennoch ausbauen und letztlich etablieren?

Kellerhof: Nun ja, eher aus kleinbürgerlichen denn aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war gutverdienender Beamter, und Hitler hat ein für die Zeit sehr ordentliches Erbe bekommen, allerdings rasch durchgebracht. Er war nicht im eigentlichen Sinne gebildet, wohl aber bruchstückhaft belesen. Seine wichtigste Eigenschaft war allerdings sein Instinkt.

Was unterscheidet den Führerkult vom Führermythos?

Hitler 1938: Seiner Inszenierung verfielen Massen – Bild: Bundesarchiv, 183-H1216-0500-002 / CC-BY-SA 3.0Lizenz: CC BY-SA 3.0 de

Kellerhoff: Da gehen die Begriffe oft durcheinander, auch bei mir. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, hier eine Differenzierung vorzunehmen. Wir können aber recht genau beschreiben, wie Hitler, von dem es vor dem November-Putsch 1923 außer seinen meist von anderen, nämlich Journalisten oder Polizeibeamten, mitgeschriebenen Reden nur wenige Aufzeichnungen gibt, sich Ende 1922 selbst sah. Der damals schon zum engeren Kreis um den NSDAP-Chef gehörende Rudolf Heß hat nämlich, wiewohl noch nicht Sekretär des „Führers“ wie ab 1925, einen Text geschrieben, der sicher mit Hitler abgestimmt war. Seltsamerweise ist diese Quelle relativ unbekannt, obwohl sie viel sagt zu Hitlers Selbstverständnis. Ich zitiere: „Der Mann, der Deutschland wieder aufwärtsführt, ist zwar auch ein Diktator, aber in heiliger Vaterlandsliebe hält er über allem eigenen Ehrgeiz seines Landes Wohl und zukünftige Größe als einziges Ziel im Auge. Er wird Deutschland wieder zur Vernunft bringen wie der Arzt einen Halbirren – wenn nötig mit brutalster Gewalt“, so Heß.

Und weiter: „Tiefes Wissen auf allen Gebieten des staatlichen Lebens und der Geschichte, die Fähigkeit, daraus Lehren zu ziehen, der Glaube an die Reinheit der eigenen Sache und an den endlichen Sieg, eine unbändige Willenskraft geben ihm die Macht der hinreißenden Rede, die Massen ihm zujubeln lässt. Um der Rettung der Nation willen verabscheut er nicht Waffen des Gegners, Demagogie, Schlagworte, Straßenumzüge usw. zu benutzen. Wo alle Autorität geschwunden, schafft Volkstümlichkeit allein Autorität.“

Das dürfte ziemlich genau das Selbstbild Hitlers Ende 1922 gewesen sein, und das blieb es auch nach dem Scheitern des November-Putsches – und über „Mein Kampf“, verfasst 1924/25, wurde dieses Selbstbild Grundlage des Führerkultes.

Ist der Führerkult eher der Person (Charisma) oder einer gesellschaftlichen Projektion zuzurechnen?

Kellerhoff: In Hitlers Fall beides. Es gibt natürlich historische Gestalten, die selbst kein herausragendes Charisma hatten und um die trotzdem ein teilweise irrer Personenkult etabliert wurde – denken Sie an Stalin, Ulbricht oder auch die nordkoreanischen Kims. Bei diesen Beispielen handelt es sich nahezu ausschließlich um Projektionen. Hitler dagegen hatte ohne jeden Zweifel Charisma, das auf seine Zeitgenossen wirkte. Er war zudem in der Lage, Menschen im persönlichen Gespräch für sich einzunehmen, und beherrschte, wenn er wollte, lässigen Smalltalk. Hitler hatte ein hervorragendes Gedächtnis (zumindest bis in den Krieg hinein) und konnte seine Umgebung immer wieder überraschen mit Details, die er gelesen hatte. Dabei war er nie ein konsequenter Arbeiter, aus Aktenstudium machte er sich nichts. Entscheidungen fielen fast immer nach mündlichem Vortrag – und oft zugunsten desjenigen, der zuletzt vorgetragen hatte. Hitlers Prinzip der Herrschaft war, Akteuren weitgehend freie Hand zu lassen und erst zu entscheiden, wenn sich unauflösliche Gegensätze ergeben hat.

Hitler mit Goebbels samt Tochter: Der kinderliebe Politiker war Teil seiner Inszenierung. Bild Bundesarchiv, Bild 183-2004-1202-500 / CC-BY-SA 3.0

Das Dritte Reich war eine Polykratie, keine Monokratie – der große Historiker Hans Mommsen hat das in die Formel gebracht, Hitler sei ein „schwacher Diktator“ gewesen, was nicht missverstanden werden sollte: Letztlich hatte immer Hitler in allem die letzte Entscheidung – nur traf er sie eben sehr oft nicht. Das Dritte Reich ist nicht erklärbar als eine von oben nach unten konsequent durchregierte Diktatur, sondern als Konglomerat unzähliger Machtzirkel und Aktiver auf unteren, mittleren und oberen Ebenen. Genau in diesem Sinne meinte Hans Mommsen sein Bild, und Ian Kershaw hat das noch genauer gefasst in die Formulierung vom „auf den ,Führer‘ zuarbeiten“, die er aus der Rede eines mittleren NS-Funktionärs entlehnte. Wie immer gilt: Je genauer man hinschaut, desto komplizierter wird das Bild.

Wie wurde der Führerkult inszeniert?

Kellerhoff: Mit höchstem Aufwand. Bis Januar 1933 war der Führerkult eine der wichtigsten Aufgaben der NSDAP – neben dem permanenten Wahlkampf, der dauernden Propaganda und der sozialen Organisation der Mitglieder sowie Sympathisanten. Ab Februar 1933 wurde der Führerkult zusätzlich zur Staatsaufgabe. Man darf aber nicht den Fehler begehen, die NSDAP auf Hitler zu reduzieren: Ohne ihre Mitglieder, die sich nicht nur mit ihrem Engagement voll einsetzten für die fürchterlichen Botschaften dieser Partei, für Hass und Niedertracht, sondern zumindest bis Ende 1932 oft auch finanziell bis an die Grenzen ihrer Leistungskraft (die meisten Reden höherer NSDAP-Funktionäre kosteten Eintritt!), wäre der Erfolg dieser Partei mit den bekannten schrecklichen Folgen unvorstellbar. Aber ebenso gilt: Ohne die ganz speziellen persönlichen Eigenschaften Hitlers wäre die NSDAP eine höchstens mittelbedeutsame radikalnationalistische Partei geblieben, wie es sie in der Zwischenkriegszeit in vielen Staaten Europas gab.

Warum konnte Hitler bis zuletzt Leute an sich binden?

Kellerhoff: Mit seinem Charme und bis in den April 1945 hinein mit der Anziehungskraft des Mythos, der ihn umgab. Es war natürlich nicht rational, im Frühjahr 1945 noch an den „Endsieg“ zu glauben – aber es gibt genügend intelligente Menschen, die bezeugt haben, genau das habe ein Treffen mit Hitler bei ihnen bewirkt.

Welche Rolle spielte die Presse?

Kellerhoff: Bis Januar 1933 wirkte die NS-Presse natürlich ganz im Sinne Hitler – übrigens nicht nur der „Völkische Beobachter“, sondern auch stetig mehr lokale und regionale Zeitungen und Bilderblätter wie der „Illustrierte Beobachter“. Ab Februar 1933 setzten Goebbels, der Geschäftsführer des NSDAP-Parteiverlages Franz Eher Nachfolger, Max Amann, und hunderte NS-Sympathisanten diese Linie auch bei den bis dahin NSDAP-kritischen Blättern durch. Teile der Presse schalteten sich selbst gleich, andere Teile wurden verboten. Ersteres ist für die Zunft der Journalisten wahrlich kein Ruhmesblatt, aber das bedeutet nicht, dass im Umkehrschluss alle Männer und Frauen, die 1933 bis 1945 als Journalisten tätig waren, das NS-Regime wesentlich gestützt hätten. Es kommt wie immer auf den Einzelfall an.

Welche Rolle spielten Frauen und die Jugend im Zuge des Führerkults?

goldenes Mutterkreu
Das goldene Mutterkreuz für Frauen mit 8 und mehr Kindern

Kellerhoff: Eine große! Frauen in ihrer im Nationalsozialismus betonten Rolle als Mütter standen für Zukunft, wie natürlich auch die Jugend. Scheinbar war im Nationalsozialismus alles ganz einfach und klar – der „Führer“ kümmert sich um die Politik, die Männer arbeiten in Industrie und Landwirtschaft, die Frauen machen den Haushalt und kümmern sich um die Kinder.

Mit der Realität hatte dieses Bild höchstens ansatzweise zu tun und ab 1939 gar nichts mehr.

Was haben wir daraus gelernt?

Kellerhoff: Tja, wenn ich diese Frage beantworten könnte! Eine identische Wiederholung des Nationalsozialismus droht natürlich nicht. Schon deshalb, weil die Umstände heute weltweit ganz anders sind. Das Beispiel Donald Trump, den man natürlich mit Hitler vergleichen darf, um dann vor allem auf die Unterschiede zwischen beiden aufmerksam zu werden (also das genaue Gegenteil von gleichsetzen) hat uns vorgeführt, wie ein technisch moderner, auf bestimmte Medien konzentrierter Populismus beinahe eine Demokratie aus den Angeln gehoben hat.

Ich habe die vergangenen vier Jahre mindestens jede Woche, manchmal jeden Tag verstört nach Washington geblickt und mir gedacht, dass das doch alles nicht wahr sein kann, was wir gerade erleben. Sind wir in Deutschland gefeit vor einer Entwicklung? Ich möchte es hoffen, allein: Sicher bin ich mir nicht. Wenn ein Mensch käme, der mit den Affekten einer nennenswert großen Gruppe der Deutschen instinktiv zu spielen versteht wie Trump mit den Affekten großer Teile der weißen Mittelschicht in den USA, dann könnte es auch bei uns sehr gefährlich werden. Bisher hat die AfD zum Glück niemanden, der über solche Instinkte verfügt; gefährlich genug ist diese Partei trotzdem schon jetzt.

Ist jede Gesellschaft zu jeder Zeit so angreifbar, wie Deutschland es damals war?

Kellerhoff: Sicher nicht jede Gesellschaft zu jeder Zeit. Aber verunsicherte, in ihren Grundfesten erschütterte Gesellschaften eben schon. Demokratie und Rechtsstaat sind anstrengend, gewiss, oft auch unbefriedigend – aber wir müssen uns immer vor Augen halten, dass es einfache Lösungen für komplizierte Probleme nicht gibt. Wer derlei versucht, wird dabei immer Menschen beschädigen. Oder Schlimmeres.