„Abstimmung mit den Füßen“ – Die Ausreisewelle der 80er Jahre und Flucht aus der DDR

„Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind.“

Erich Honecker – 1989

„Bei genauerer Kenntnis des DDR-Alltags“, konstatiert der Historiker Stefan Wolle, sind „der westliche Konsum, die Freizügigkeit, der politische Pluralismus […] für die DDR-Bürger immer der Maßstab ihres eigenen Lebens gewesen.“ Dieser Umstand – zugespitzt von Wolle formuliert – führte im Verlauf der Deutschen Demokratischen Republik zu einem sich verstärkenden Bedürfnis vieler DDR-Bürger, den SED-Staat zu verlassen und in die Bundesrepublik überzusiedeln.

So verließen in den Jahren von 1949 bis 1989 insgesamt 3,5 Mio. Menschen (von 17 Millionen Bürgern) die DDR. Die Gründe für die – in den 1980er Jahren stark anwachsende – Ausreisewelle waren vielfältig. Den wichtigsten Hintergrund bildete die Unzufriedenheit über den mangelnden Lebensstandard, die fehlende Reisefreiheit und die politische Repression.

So zieht sich die Geschichte der Flucht und der Ausreise gen Westen wie ein roter Faden durch das gesamte Bestehen der DDR. Die enorme Ausreisewelle in den 80er Jahren steht dabei nur am Ende einer langen und stetigen Entwicklung. Ein erster Höhepunkt der Abwanderung ereignete sich schon in der Phase zwischen 1945 und 1961. So hatten vor dem Bau der Berliner Mauer bereits 2,5 Mio. Menschen die DDR verlassen. Dabei dominierten ungenehmigte Übertritte der Staatsgrenze und die Nichtrückkehr bei genehmigten Besuchsreisen in den Westen, also die „Flucht aus der DDR“. Die Motive, aus denen die meisten Menschen die Flucht bis zum Bau der Mauer wagten, waren politisch: Per „Abstimmung mit den Füßen“ protestierte man gegen Enteignungen (in der Landwirtschaft) im Rahmen des Aufbaus des Sozialismus, die Niederschlagung des Aufstands im Juni 1953 und die Einführung der Wehrpflicht.

Der Bau der Berliner Mauer – Von der Flucht zum Ausreiseantrag

Waren im Jahr zuvor Übertritte über die offene Staatsgrenze in Berlin noch relativ problemlos möglich, ließ der Bau der Berliner Mauer die Chancen für einen erfolgreichen Fluchtversuch massiv sinken. Der „antifaschistische Schutzwall“ machte jeglichen unerlaubten Versuch, die DDR-Grenze gen Westen zu übertreten, zu einem lebensgefährlichen Unterfangen. So ließen die zahlreichen Mauertoten die Flüchtlingszahlen ab 1961/62 massiv sinken. Die immer perfekteren Sicherheitsstandards an der innerdeutschen Grenze sorgten dafür, dass die Zahlen bis zum Ende der DDR stetig abnahmen: Von 1977 immerhin noch gut 700 Fluchtversuchen auf unter 200 Fluchtbewegungen im Jahre 1985.

Dafür zeichnete sich nun aber ein anderer Trend ab – für den Bestand der DDR nicht minder gefährlich. Vor allem nach dem UNO-Beitritt 1973 und der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 durch die DDR stellten immer mehr Menschen einen sogenannten „Antrag für die ständige Ausreise aus der DDR“. Mit diesem Ausreiseantrag pochten die DDR-Bürger nun auf ihre Menschenrechte, auf deren Einhaltung sich die DDR eigentlich mit der Unterzeichnung der KSZE-Akte verpflichtet hatte. Darunter subsumierten die Ausreisewilligen auch ein Recht auf Freizügigkeit. Bis 1989 musste der Antrag, auch Übersiedlungsersuchen (ÜSE) genannt, formlos bei den zuständigen Behörden eingereicht werden. Die Zusage, meist aber eine Absage, wurde mündlich und normalerweise ohne Begründung ausgesprochen. Erst im finalen Jahr der DDR wurde das Ausreiseverfahren formalisiert und entsprechende Anträge eingeführt (siehe Bild oben).

Die „Szene der Ausreisewilligen“ und die Reaktion der Sicherheitskräfte

Seit den 1980er Jahren stieg die Anzahl der Ausreiseantragsteller stark an. Mitte der 80er schlossen sich dann immer mehr Ausreiseantragsteller zu Interessengemeinschaften zusammen und es formierte sich eine Art „Ausreiseszene“. Vor allem gegen Ende der 80er Jahre, als sich viele Arbeitsgemeinschaften, Selbsthilfegruppen und Initiativen der Ausreisewilligen innerhalb und außerhalb der Kirche bildeten. In diesen „Ausreisegemeinschaften“ trug man beispielsweise sein Ansinnen auf Ausreise bzw. seinen Protest gegen die Ablehnung seines Ausreiseantrags an die Öffentlichkeit und erreichte damit auch die Westmedien. So stieg auch die Anzahl der Beschwerden an staatliche Stellen in Bezug auf (abgelehnte) Ausreiseanträge im Verlauf der 80er Jahre stark an. 1983 waren es 30.000 Beschwerden, 1987 schon 50.000 und 1989 erreichte die Zahl mit 70.000 offiziellen Einwendungen ihren Höchstwert. 1988 mussten sich die SED-Sicherheitsorgane allein in Dresden mit 2.800 demonstrierenden Antragstellern auseinandersetzen. So stellte die „Ausreiseantragsteller-Szene“ in den 80er Jahren immer wieder ein Thema der öffentlichen Diskussion in allen gesellschaftlichen Bereichen dar.

Der DDR-Staat reagierte mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen auf die immer weiter steigende Zahl an Ausreisewilligen und deren zunehmende Organisation. Die Reaktionen waren vielfältig und reichten von der Verbesserung der negativen Umstände, die die Antragsteller zu Ausreise bewogen, bis hin zu repressiven Maßnahmen. So besserten sich teilweise sogar die Lebensumstände der Antragsteller. Meist reagierten die staatlichen Organe – allen voran die Staatssicherheit – aber mit Verhaftungen, Repressalien gegen die Familien, Gängelung am Arbeitsplatz und anderen Repressionen. Trotzdem gelang es den staatlichen Organen der DDR niemals, die Trendwende herbeizuführen.

Foto von der Leipziger Montagsdemonstration mit mehreren tausend Menschen auf Leipzigs Straßen
Auch auf den Montagsdemonstrationen im letzten Jahr der DDR, wie hier in Leipzig, äußerte die Bewegung der Ausreiseantragsteller ihren Unmut über die mangelnde Reisefreiheit. | Foto Bundesarchiv: 183-1989-1023-022, Friedrich Gahlbeck, Lizenz: CC-BY-SA-3.0-de

So wuchs die Gruppe der Ausreise-Antragsteller im Verlauf der 80er Jahre allmählich zu einer Massenbewegung an – im Gegensatz zu oppositionellen Gruppierungen, welche die DDR von innen reformieren wollten. Die Zahl der Ausreiseantragsteller erreichte Anfang der 80er Jahre einen ersten Höhepunkt als 21.500 Ausreiseanträge bei den Behörden im Jahre 1980 eingingen. Der Versuch, durch Ausreisegenehmigung für 21.000 Antragsteller die Lage zu entschärfen, führt 1985 zu einem explosionsartigen Anstieg der Anträge um das Vierfache auf 57.000 Antragsteller.

Die Jahreswende 1987/1988 markierte einen erneuten Höhepunkt: 105.000 Menschen stellen einen Antrag auf Ausreise. 1989 begann der Anfang vom Ende der DDR und damit der Ausreiseanträge, als deren Zahl auf 159.000 am Beginn des Jahres stieg. Als Ungarn 1989 seine Westgrenzen öffnete, nutzten zudem hunderte DDR Bürger ihre Chance, über die nun offene Grenze in den Westen zu gelangen.

Bedeutung der Ausreisewelle für das SED-Regime

Für das SED-Regime ergaben sich aus der – im Verlauf der 80er Jahre dramatisch anschwellenden – Ausreisewelle eine ganze Reihe negativer Konsequenzen. So war der Wegzug von ausgebildeten Facharbeitern und Akademikern besonders verheerend. Auch wenn es Ausreisende in allen Schichten der DDR-Bevölkerung gab, dieser „Brain-Drain“ verschlimmerte die ruinöse Lage der DDR-Wirtschaft noch weiter. Auch auf politischer Ebene ergab sich durch die Kombination der hohen Anzahl an Ausreiseantragstellern und der wachsenden Opposition im Inland für die DDR-Führung ein immer explosiveres Gemisch. Das ungelöste Problem der vielen Ausreiseantragsteller stellte im Herbst 1989 einen bedeutenden Mitgrund für das SED-Politbüro und Günther Schabowski dar, die Einschränkungen der Reisefreiheit in der DDR ganz aufzugeben. Das Ende der DDR war besiegelt.

Titelfoto: Ausreiseantrag von Norbert Radtke (Dramburg) | Lizenz: CC-BY-SA-3.0-de

Artikel erstmals veröffentlicht am 12. November 2014