Auschwitz-Birkenau im Dezember 2022: Durch die Tore des ehemaligen Vernichtungslagers führen rostige Eisenbahnschienen. Es ist kalt und eine große Ansammlung von Menschen jeden Alters tummelt sich vor dem Eingang. Ein Mädchen rennt hastig zurück. Sie posiert. Vorsichtig balanciert sie dabei auf den Schienen und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Ihre Freundin fängt die Szene mit ihrer Handykamera ein. Eine andere Gruppe, eine Familie, knipst ebenfalls lächelnd einen Schnappschuss. Schnell stellen sich die Familienmitglieder wieder zurück in die Reihe, um die Gedenkstätte zu besuchen, wo mehr als 1,1 Millionen Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle und Andersdenkende auf grausamste Arte und Weise gefoltert, vergast und ermordet und für Menschenexperimente missbraucht wurden.
Heute, fast 80 Jahre nach der Befreiung 1945, zieht der Ort immer noch Menschenmengen an. Im Jahr 2019 waren es rund 2,3 Millionen Menschen, die die Gedenkstätte des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers besuchten. Doch: Wie fühlt es sich wirklich an, heute im 21. Jahrhundert dort zu sein? Wer besucht die Gedenkstätte und warum? Und worauf sollte man sich bei einem Besuch vorbereiten? Ein Erfahrungsbericht.
1. Die Anreise
Von Krakau bis ins Konzentrationslager Auschwitz I sind es knapp 70 Kilometer. Einer der vielen großen Transportbusse, die vor Hotels auf die Besucher und Besucherinnen warten, wird auch an diesem Tag mehrfach die Strecke fahren – vorbei an ganz normalen Familienhäusern und durch dunkle Kiefernwälder. An diesem frostigen Wintermorgen fährt er auch Gabriel an den Ort des Schreckens. Gabriel stammt aus Paris. Er ist Mitte 20 und besucht Auschwitz schon das zweite Mal. Dieses Mal habe er seine Freunde mitgenommen, sagt er. Sie wären noch nie hier gewesen. Deswegen würde er sie jetzt mitnehmen und ihnen Auschwitz zeigen. Man müsse den Ort einmal im Leben selbst sehen und vor allem spüren. Auch wenn so viele Jahre vergangen seien, eine Schwere läge noch immer in der Luft. Er ist überzeugt: Jeder nimmt etwas anderes von diesem Ort mit.
Nach etwas mehr als 60 Minuten biegt der bunte Bus mit seinen insgesamt etwa 40 deutschen und französischen Passagieren auf einen schlammigen Parkplatz ein. Die Gespräche untereinander sind angeregt. Der Kies knirscht unter den dicken Winterschuhen auf dem Weg zum Stammlager. Auffallend viele junge Menschen, die gerade das Lager besucht haben, kommen der Gruppe entgegen. Einige von ihnen lachen. Andere schauen betrübt zu Boden. Eine blonde Frau mit einer Pudelmütze hat Tränen in den Augen, die sie sich schnell mit einem zerknitterten Papiertaschentuch aus dem Gesicht wischt.
Recht schnell erreicht die Gruppe den Eingang zur ersten Station: das Stammlager des größten Vernichtungs- und Konzentrationslagers des Nazi-Regimes. Die Besucher werden nun in Gruppen eingeteilt. Rot oder blau: Jeder erhält – je nach Nationalität – einen Aufkleber, den er oder sie sich hastig an die Jacke klebt. Deutsche und französische Gruppen-Guides versammeln sich blitzschnell um die Besucher. Es wirkt alles routiniert. Gleich startet die Sicherheitsüberprüfung. Diese ähnelt einer Flughafenkontrolle. Ausweise werden geprüft, Kopfhörer für die Tour verteilt. Es vergehen nur wenige Minuten, bis jede der Gruppen unter dem berühmten Torbogen steht. „Arbeit macht frei“ steht dort in geschwungenen Lettern. So oft hat man die Toraufschrift in Schulbüchern gehen. Jetzt steht man selbst unter dem Schriftzug, der für viele Insassen zynisch das bittere Ende und niemals Freiheit bedeuteten sollte.
Das Gelände an sich besteht aus mehreren roten Ziegelsteinhäusern. U. a. ein Häftlingskrankenbau, das Lagergefängnis, ein Bordell sowie Gaskammer und Krematorien können besichtigt werden.
„Hören Sie mich alle gut?“ fragt plötzlich Zuzanna, eine polnische Deutschlehrerin, die erst seit ein paar Wochen an den Wochenendtagen Führungen für deutschsprachige Besucher gibt. Die Führung beginnt und ist ganz anders als erwartet.
2. Geschichte(n) hinter Glas: Das Museum Auschwitz
Zuzanna führt die Gruppe durch verschiedene Räume. Der dunkle Holzboden knarzt bei jedem Schritt. Dass es sich hier um ein Museum handelt, wird erst deutlich, wenn man vor den zahlreichen „Schaufenstern“ oder Fotografien steht – heimlich aufgenommen von damaligen Insassen, unter Lebensgefahr. Heute sind sie ein eindeutiger Beweis für den Schrecken der Jahre von 1940 bis zur Befreiung im Jahr 1945.
Weiter geht es vorbei an Bergen von Habseligkeiten: Schlammbraune Männerschuhe liegen zwischen Absatz- und Kinderschuhen wahllos verstreut. Jedes Paar gehörte zu einem Menschenleben.
Genauso wie auch jeder Koffer der alleinige Besitz einer einzelnen Person oder einer ganzen Familie war, der ihnen von den Nazis bei der Ankunft entrissen wurde. Besonders eindrücklich: Auf vielen Koffern stehen noch in weißer Schrift die Namen der Eigentümer geschrieben. Die Vergangenheit wird greifbar. Sie rückt näher mit jedem Raum, den die Gruppe betritt.
In einem Raum weist Zuzanna darauf hin „Hier bitte nicht fotografieren. Die Ausstellungsstücke sind besonders fragil.“ Eine Menschenansammlung verbirgt den Blick auf das, was die Besucher nun erwartet: Eine riesige Anhäufung von menschlichen Haaren – geflochtene Frauenzöpfe, mehrere Meter hoch gestapelt. Einige Besucher bleiben fasziniert stehen, andere gehen schnell weiter.
Was folgt, ist ein langer Flur. An den Wänden hängen Aufnahmen der Ermordeten. Sie blicken mit leeren Augen in die Kamera. In manchen Blicken liest man den Überlebenswillen, andere wirken gebrochen. Mit jedem Raum wird die Gruppe stiller. Im Gänsemarsch schleust der Guide die Besucher von Raum zu Raum. Immer wieder erzählt Zuzanna von einzelnen Schicksalen. Man merkt, wie wichtig ihr es ist, die Erinnerung an die Vergangenheit wach zu halten und nicht verblassen zu lassen.
3. Die „Schwarze Wand“
Die Todeswand oder auch die Schwarze Wand: So heißt der Ort in Auschwitz, wo tausende Todesurteile vollstreckt wurden – per Genickschuss auf Anordnung. Die Gruppe geht denselben Weg, den die zum Tode Verurteilten damals gegangen sind. Zum Teil warteten die Gefangenen wochenlang auf den Tod in Stehzellen. Jeder der Besucher steht plötzlich selbst vor der Wand, die heute ein Mahnmal für das Vergangene ist. Welche Gedanken kommen einem hier in den Sinn? Für Jule aus Deutschland, die heute das erste Mal zusammen mit ihrem Freund Robin Auschwitz besucht, fühlt es sich an wie Watte im Kopf. Sie kann keinen klaren Gedanken fassen. Sie ist „ohne große Erwartungen“ nach Auschwitz gekommen. Doch trotzdem merkt sie, dass dieser Ort etwas mit ihr macht. Sie fühlt, dass sie die vielen Eindrücke, die im Minutentakt auf sie einprasseln, verarbeiten muss. Sie kommt nicht hinterher. Sie fühlt sich überfordert.
4. Einblicke in die Gaskammer
Die Tour geht nun schon fast zwei Stunden. Gabriel, seine Freunde, Jule und Robin folgen nun Zuzanna etwas außerhalb des Lagers. Sie gehen am Stacheldrahtzaun vorbei. Ein kleiner Durchgang ist heute frei. Auf der rechten Seite, versteckt hinter knorrigen Bäumen, liegt die einstige Villa des Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, Ferdinand Höß (1901-1947). Er lebte hier mehrere Jahre mit seiner Familie. Auf ihrem reichlich gefüllten Esstisch standen zum Teil jene Speisen, welche den Inhaftierten vorher abgenommen wurden. Seine Kinder trugen die Kleidung von jüdischen Kindern, die er in die Gaskammer schickte.
Der Eingang zu der Gaskammer ist nicht weit von dem Anwesen entfernt. Der Eingang ist eng, sehr eng. Vor der moosbewachsenen schmalen Öffnung stehen einige Besucher aufgereiht. Ganz vorne wartet eine Mutter mit ihrem kleinen Kind. Eine Altersbeschränkung für einen Besuch in Auschwitz scheint es nicht zu geben – allenfalls eine Empfehlung. Sollte man sein (Klein-)Kind wirklich hierhin mitnehmen?
Auch wie zuvor, geht auch jetzt alles ganz schnell. Plötzlich steht die Gruppe in der dunklen Gaskammer. Von oben fällt schwaches Licht. Der graue Stein ist schmutzig und sieht verwaschen aus. An den Wänden sehen einige Stellen so aus, als ob menschliche Hände hier Kratzspuren hinterlassen hätten. Der Aufenthalt dauert nur wenige Minuten. Gut so – es ist Zeit zum Durchatmen.
5. Schöne Grüße aus Auschwitz?!
Zwischen dem Stammlager Auschwitz I und dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau legt die Gruppe eine Rast ein. Im „Pausenraum“ ist es voll. Der Besucherstrom scheint nicht abzubrechen. Viele der Wartenden wirken wie Touristen. Sie stehen rum, haben ein Schokoladeneis in der Hand, knipsen immer wieder Fotos mit der Handykamera. Einige von ihnen packen hastig eine Postkarte ein, die sie gerade im Shop erworben haben. Schöne Grüße aus Auschwitz? „Warum schreibt man eine Postkarte aus Auschwitz?“, fragt Robin. „Ich kann vielleicht noch verstehen, wenn man seine gewonnenen Eindrücke mit Familienmitgliedern in der Ferne teilen möchte. Einen seltsamen Beigeschmack hat das Ganze für mich trotzdem! Ich finde das makaber. Das hat etwas von einer Art Auschwitz-Tourismus.“
6. Auschwitz-Birkenau: A + J = Liebe
Die Gruppe läuft nun zurück zum Bus. Die Gespräche flammen wieder auf. Es ist schon Nachmittag. Es fängt an zu regnen. Das Wasser von oben vermischt sich mit dem Boden und wird zu einer matschigen Masse. Die Kälte kriecht durch die Kleidung. Es ist unbehaglich. Die letzte Station der Reise steht an. Binnen weniger Minuten fährt der Transport-Koloss wieder auf einen weiteren Parkplatz, der voll mit anderen Bussen ist. Mit schnellen Schritten erreichen Jule und die anderen das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. „Ich habe noch nie einen Ort gesehen, der so trostlos und grau erscheint!“, sagt Jule. Ob das jeder so wahrnimmt? Ein wartender Jugendlicher stellt eine Flasche auf einer Treppe eines Wagons ab, der mitten im Lager auf den Gleisen steht und einst Menschen in das Lager transportierte.
Zuzanna führt die Besucher nun vorbei an von den Nazis weggebombten Gaskammern und dunklen Lagern. Ziemlich weit hinten erreicht die Gruppe mehrere Gedenktafeln. Auf verschiedenen Sprachen steht hier geschrieben:
„Dieser Ort sei Allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit. Hier ermordeten die Nazis etwa anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten waren Juden aus verschiedenen Ländern Europas.“
Die Deutschlehrerin erzählt von einzelnen Schicksalsgeschichten, die hier in Auschwitz-Birkenau stattgefunden haben. Sie berichtet z. B. von einem Sohn, der seine Mutter freiwillig in die Gaskammer begleitete. Nicht weit entfernt existierte auch ein Kindergarten, erzählt sie. Dort habe der NS-Arzt Josef Mengele (1911-1979) seine jungen Opfer für seine grausamen Menschenexperimente ausgewählt.
Die letzte Station bildet das Krankenlager für Frauen von Auschwitz-Birkenau. Es war ein gefürchteter Ort. Die Kranken lagen hier zusammen auf Strohsäcken. Starb die Eine, nahm eine Andere ihren Platz ein. Die Lagerräume, wo die Frauen schliefen, sind dunkel. Nur vereinzelt fallen fahle Lichtstrahlen durch Holzbretter. Es gibt nur wenige Fenster. Die Wärme des einzelnen kleinen Ofens konnte nicht den ganzen Raum erwärmen. Der Raum erscheint wie eine kleine, dunkle und zugige Höhle. An den Holstreben der Betten sind Buchstaben und Wörter eingeritzt. Zeichen der Vergangenheit. (Lebens-)Zeichen von denen, die hier vielleicht noch gehofft und später doch ermordet wurden. Auf einer Außenwand des Lagers, nahe des Eingangs, finden sich aber auch Zeichen unserer Zeit. Mit krakeliger Schrift haben sich hier Besucher verewigt. An einer Stelle hat jemand die Buchstaben A und J notiert – umrandet von einem Herzen.
Der Schritt nach draußen fühlt sich erleichternd an. Die Gruppe geht vorbei an einem Mauervorsprung. Heute haben vereinzelte Besucher weiße Rosen mitgebracht. Eine von ihnen liegt auf dem Mauervorsprung vor dem Frauenlager und zeigt mit ihrer weißen Knospe in Richtung des Ausgangs, den es für die Insassen von Auschwitz Birkenau nicht gab.
7. Die Rückreise
Es ist mittlerweile früher Abend. Im Bus ist eine auffällige Stille eingekehrt. Einige Gruppenmitglieder sinken müde auf ihrem weichen Sitzpolster zusammen und schlafen. Andere sind mit ihrem Handy beschäftigt. Jule hört auf dem Rückweg einen Podcast*. Sie denkt über das Erlebte nach. Auch Tage danach wird sie sich immer wieder mit dem Thema beschäftigen, weil es sie nicht loslässt. Auschwitz wirkt nach. Sie sagt: „Richtig vorbereiten kann man sich auf Auschwitz nicht. Dennoch sollte man sich vorher mit dem Thema beschäftigen. Auschwitz ist zwar heute ein Museum, aber keine Sehenswürdigkeit, die man mal eben in seine Reise einbauen sollte.“ Auch im Austausch mit den anderen Gruppenmitgliedern wird deutlich: Ein Tag in Auschwitz macht auch heute noch großen Eindruck auf die Besucher. Der Umgang mit dem Erlebten ist individuell. Dennoch hat Gabriel wohl recht: Neben Selfies und gekauften Büchern nimmt jeder am Ende doch noch etwas für sich mit und zieht wohlmöglich Schlussfolgerungen, bevor er oder sie aus dem großen Bus aussteigt und wieder zurück ins Hotelzimmer geht.